Dienstag, 27 September 2016 13:51

Fördermittel für Astrozyten-Kokultur in der Petrischale Empfehlung

In-vitro-Forscher Prof. Marcel Leist, Inhaber des Doerenkamp-Zbinden-Lehrstuhls für In vitro-Toxikologie und Biomedizin der Universität Konstanz erhält die nächsten drei Jahre eine Finanzspritze für die Etablierung eines wichtigen Hirnzelltyps in der Petrischale, den Astrozyten. Damit wird ein nächster Schritt beim Ersatz von Tierversuchen im Bereich der biomedizinischen Forschung begangen.

Immer mehr Forschergruppen arbeiten mit humanen Nervenzellen in der Petrischale mit dem Ziel, frühe Entwicklungsstadien des menschlichen Gehirns oder neurodegenerative Prozesse zu untersuchen. Jedoch sind Nervenzellen allein nicht ausreichend, um das menschliche Hirngewebe realistisch darzustellen. Die Grundzelltypen des Gehirns sind Nervenzellen (Haupt- und Interneuronen) sowie Gliazellen, die sich wiederum in Astrozyten und Oligodendrozyten unterscheiden. Hinzu kommen Mikrogliazellen als Komponente des Immunsystems.

Astrozyten - ein wichtiger Zelltyp im Gehirn

Astrozyten machen rund 80 Prozent der Zellen des Gehirns aus. Sie sitzen an den Synapsen der Neuronen. Werden in der Region Botenstoffe wie Glutamat oder Adenosintriphosphat (ATP) freigesetzt, binden diese Stoffe an die Membran der Astrozyten und es kommt zu einem Kaliziumeinstrom in deren Zelle, der als Information an andere Astrozyten weitergeleitet wird. Astrozyten können auch selbst Glutamat und ATP ausschütten und zum Informationsfluss beitragen. Sie sind sozusagen der Moderator beim Informationsaustausch des Nervenzellgewebes, sind aber auch bei der Umgestaltung des Nervenzellnetzwerks (Stichwort: Neuroplastizität) und an der Neubildung von Synapsen beteiligt. Noch komplizierter wird die Sache dadurch, dass Astrozyten zudem in verschiedenen Hirnregionen unterschiedliche Eigenschaften haben. Man kann daher nur erahnen, welche Bedeutung der Fähigkeit, reife Astrozyten in einer Nervenzellkultur züchten zu können, zukommt.




Astrozyten-Kokultur: Neuronen (rot gefärbt), Astrozyten (grün gefärbt), in blau sind die Zellkerne zu sehen.
Foto: M. Leist, In vitro-Toxikologie und Biomedizin, Universität Konstanz.


Hoher Tierverbrauch in der biomedizinischen Forschung


Von den 12 Millionen Versuchstieren, die in Europa pro Jahr verbraucht werden, werden drei Viertel in biomedizinischen Forschung eingesetzt, berichtete Prof. Marcel Leist 2015 anlässlich der Tierschutzforschungspreisverleihung des BMEL (1). Mit seinem Team ist es ihm bereits gelungen, ein dreidimensionales KoKulturenmodell aus humanen Neuronen und Astrozyten zu etablieren. Damit können die Wissenschaftler Neurodegenerationsstudien durchführen und pharmazeutische Substanzen zur Behandlung dieser Erkrankungen testen.
Der Wermutstropfen: Der derzeitige Entwicklungsstand machte bislang immer noch die Kokultur von humanen Nervenzellen mit Astrozyten von der Maus notwendig. Grund dafür ist, dass es derzeit noch kein praktikables Verfahren gab, um humane Astrozyten erfolgreich in praktikabler Zeit zu züchten. "Neuronenprotokolle gibt es viele, auch etliche Astrozytenprotokolle. Wir haben alle bereits veröffentlichten Informationen
zur Anzucht von Astrozyten gesichtet. Jedoch sind die nicht wirklich anwendbar", so Forscher Leist.

Mini-Brains rekapitulieren Frühentwicklung

Die Minibrain-Gebilde des Institute of Molecular Biotechnology GmbH in Wien oder vom Centers for Alternatives to Animals Testing (CAAT) in Baltimore z.B. werden aus induzierten pluripotenten Stammzellen entwickelt und weisen bereits alle gängigen Zelltypen wie verschiedene Nervenzelltypen, Astrozyten und Oligodendrozyten aus (1). Diese viel beachteten in-vitro-Modelle rekapitulieren jedoch ein Frühstadium der menschlichen Hirnentwicklung und lassen sich nur bis zu einem bestimmten Stadium weiterentwickeln.

Neues Kokulturen-Modell zur Erforschung neurodegenerativer Erkrankungen

Prof. Marcel Leist wird mit einer Förderung aus dem Landeshaushalt Baden-Württembergs in den nächsten drei Jahren humane Astrozyten aus induzierten pluripotenten Stammzellen entwickeln und etablieren. In Ko-Kultur mit den anderen Zelltypen werden sie in der Grundlagenforschung zum Studium neurodegenerativer Erkrankungen, z.B. um die pathologische Störung der Interaktion zwischen Neuronen und Astrozyten zu untersuchen, zum Einsatz kommen. Aber auch in der angewandten medizinische Forschung und Arzneimittelentwicklung können sie genutzt werden. Künftig wird damit eine Quelle zur Verfügung stehen, die auch anderen Forschern auf diesem Gebiet zugute kommen könnte. Die Funktionsfähigkeit des neuen Modells soll beispielhaft anhand der Untersuchung der Rolle der Astrozyten bei der Synaptogenese, der Interaktion der Astrozyten mit Mikrogliazellen bei Entzündungen, anhand von Stoffwechseluntersuchungen erfolgen. Die Wissenschaftler wollen sich ferner der Charakterisierung der verschiedenen Astrozytentypen zuwenden.

Es sind also spannende Erkenntnisse zu erwarten.

Die Förderung des Landes Baden-Württemberg beträgt für die nächsten drei Jahre 158.000 Euro.


Weitere Informationen:
http://mlr.baden-wuerttemberg.de/de/unser-service/presse-und-oeffentlichkeitsarbeit/pressemitteilung/pid/minister-hauk-mdl-zum-wohl-der-tiere-muessen-stetig-verfahren-entwickelt-werden-um-tierversuche/
http://www.invitrojobs.com/index.php/de/neuigkeiten/news-archiv/item/1805-in-vitro-kokulturenmodell-fuer-die-neurodegenerative-forschung-bundes-tierschutzforschungspreisverleihung-fuer-prof-marcel-leist
http://www.invitrojobs.com/index.php/de/neuigkeiten/news-archiv/item/2036-caat-wissenschaftler-entwickeln-minigehirne
http://www.networkglia.eu/astrozyten

Auch Interessant:
Susanne Donner (o.j.): Den Mensch denkt, die Glia lenkt. http://www.networkglia.eu/sites/networkglia.eu/files/docs/Glia_fuer_Einsteiger.pdf