Freitag, 30 Oktober 2015 12:54

… „Vertrauensbildende Maßnahmen in die Anwendbarkeit und Vorhersagekraft neuer Ansätze ist notwendig“… Empfehlung

Ein europäisches Forschungsprojekt will in den nächsten sechs Jahren die Toxikologie mit tierversuchsfreien Methoden effizienter machen. Hierfür stehen aus dem EU-Pool für Horizon 2020 insgesamt 30 Millionen Euro zur Verfügung. Das europäische Forschungskonsortium besteht aus 35 Teilnehmern aus Europa und den USA. Der Lehrstuhl für Alternativen zum Tierversuch in der Toxikologie und Biomedizin in Konstanz ist einer davon.

Geleitet wird er von Prof. Dr. Marcel Leist, der u. a. vor kurzem den Bundesforschungspreis für Ersatz- und Ergänzungsmethoden zu Tierversuch für die Entwicklung eines In-vitro-Kokulturenmodells für die Neurodegenerative Forschung erhalten hat. Er findet die Diskontinuität der Forschungsfinanzierung in der EU an tierversuchsfreien Methoden bedenklich und fordert zudem ein EU-Forschungsinstitut für die toxikologische und nicht-toxikologische Forschung mit tierversuchsfreien Methoden.

Wir sprachen kurz mit ihm über das neue EU-ToxRisk-Programm.


Prof. Marcel Leist.
Foto: CAAT-Europe.


InVitro+Jobs:

Herr Prof. Leist: Welche Zielsetzung hat das neue Projekt EU-ToxRisk?

Prof. Leist:
Ein Schwerpunkt ist die Weiterentwicklung des „Read-Across“1 als wichtige Alternativmethode im Bereich der Chemikalientestung nach REACh. Als zweiter Schwerpunkt werden Proof-of-Concepts2 mit mechanistisch orientierten in-Vitro-Systemen für vielfältige Endpunkte3 durchgeführt mit dem Ziel, sie bei der Einschätzung von Gefahren und Risikobewertung von Chemikalien einzusetzen.

InVitro+Jobs:
Wie schätzen Sie die Bedeutung des Projekts für die Entwicklung tierversuchsfreier Verfahren ein?

Prof. Leist:
Im Bereich der Toxikologie ist dieses EU-Projekt eminent wichtig, da sowohl Regulatoren als auch die Industrie stark eingebunden sind und für die Anwendbarkeit der daraus resultierenden Methoden sorgen.

InVitro+Jobs:
Die Entwicklungsschwerpunkte liegen auf der chronischen Toxikologie und der Reproduktions-toxikologie: Wie ist der derzeitige Entwicklungsstand bei diesen beiden Bereichen?

Prof. Leist:
Es sind harte Nüsse, die da zu knacken sind, wie wir in unserer Roadmap (siehe Altex Publikationena, b, c, d, e) zum Thema Animal-free Testing ausführlich dargestellt haben.

InVitro+Jobs:
Welche Ergebnisse sind hier dringend notwendig?

Prof. Leist:
Es sind vor allem vertrauensbildende Maßnahmen in die Anwendbarkeit und Vorhersagekraft neuer Ansätze notwendig.

InVitro+Jobs:
Viele Forscher meinen, dass es sehr schwierig sei, an Mittel des EU-Förderprogramms Horizon 2020 zu kommen? Wie war das in diesem Fall?

Prof. Leist:
Von 26 konkurrierenden Vorschlägen wurde nur einer gewählt. In den Antrag wurden bei uns ca. 2000-3000 Arbeitsstunden investiert. Wenn das bei den anderen auch so war, dann gingen mindestens 50000 Arbeitsstunden verloren – ja, es ist schwierig, an derartige Gelder zu kommen.

InVitro+Jobs:
Mit welchen Argumenten konnte der Geldgeber überzeugt werden?

Prof. Leist:
Da müsste man die Gutachter fragen…. Wir hoffen, dass sowohl die Qualität und Realisierbarkeit des Arbeitsprogramms als auch die Expertise der Partner und deren spezifische Kombination den Ausschlag gaben.

InVitro+Jobs:
Was ist Ihre Aufgabe/Zielsetzung in diesem Projekt genau?

Prof. Leist:
Meine Aufgabe besteht in der Unterstützung des Koordinators bei der gesamten Projektsteuerung sowie darin, eigene Forschungsbeiträge im Bereich der Neuro- und Entwicklungstoxizität zu leisten.

InVitro+Jobs:
Was wäre darüber hinaus noch nötig, um die Entwicklung tierversuchsfreier Methoden voran zu bringen?

Prof. Leist:
Mehr Projekte wären ein erster Ansatz. Es sieht so aus, als ob die Alternativmethoden in Horizon 2020 an Stellenwert verloren haben gegenüber dem vorhergehenden Forschungsprogramm der EU, FP7. Ganz eklatant ist dies im Bereich der nicht-toxikologischen Forschung, in der 80 % aller Tiere verwendet werden. Eine runde und nachhaltige Lösung wäre der Aufbau eines Forschungsinstituts für Alternativmethoden im toxikologischen und nicht-toxikologischen Bereich. Die 5-Jahresprojekte hatten bisher ein sehr großes Problem mit der Kontinuität.

InVitro+Jobs:
Wir danken Ihnen für das Gespräch.


Quellen:

http://www.invitrojobs.com/index.php/de/neuigkeiten/news-archiv/item/1845-neues-forschungscluster-eu-toxrisk
http://www.invitrojobs.com/index.php/de/neuigkeiten/news-archiv/item/1805-in-vitro-kokulturenmodell-fuer-die-neurodegenerative-forschung-bundes-tierschutzforschungspreisverleihung-fuer-prof-marcel-leist


Glossar:

1 Read-across: Wenn ein Stoff schon einmal registriert wurde, hat ein neuer Registrant die Möglichkeit, sich auf existierende Studienzusammenfassungen zu demselben Stoff zu beziehen und muss den Tierversuch nicht noch einmal durchführen.
2 Proof-of-concepts: Machbarkeitsstudien
3 Endpunkte: Studienziele, wie z.B. akute Toxizität oder Reproduktionstoxizität


Literatur:
a Smirnova, L, Hogberg, HT, Leist, M & Hartung, T (2014): Developmental Neurotoxicity – Challenges in the 21st Century and In Vitro Opportunities.
Altex 31, 2/14: 129-156. http://www.altex.ch/All-issues/Issue.50.html?iid=149&aid=2
b Sauer, JM, Hartung, T, Leist, M et al. (2015): Systems Toxicology: The Future of Risk Assessment. International Journal of Toxicology
1-3
c Leist, M, Hasiwa, N, Rovida, C et al. (2014): Consensus Report on the Future of Animal-Free Systemic Toxicity Testing. Altex 31 3/14: 341-356.
http://www.altex.ch/All-issues/Issue.50.html?iid=150&aid=8
d Bal‑Price, A, Crofton, KM, Leist, M et al. (2015): International STakeholder NETwork (ISTNET): creating a developmental neurotoxicity (DNT) testing road map for regulatory purposes. Arch Toxicol 89:269–287.
DOI 10.1007/s00204-015-1464-2
e Rovida, C, Asakura, S, Daneshian, M (2015): Toxicity Testing in the 21st Century Beyond Environmental Chemicals. Altex 32 (3): 171-181.
http://www.altex.ch/All-issues/Issue.50.html?iid=154&aid=1