Samstag, 01 Juli 2023 16:51

Berlin: Internationaler Kongress zu Multiorgan-on-a-Chip mit überwältigenden Beiträgen Empfehlung

Vom 26. bis zum 30. Juni fand der diesjährige Weltgipfel der mikrophysiologischen Systeme in Berlin statt. 1.297 Teilnehmer aus zahlreichen Ländern hatten sich registriert. Es war beeindruckend, wie viele junge NachwuchswissenschaftlerInnen sich der Entwicklung von tierfreien Methoden verschrieben haben mit der letztlichen Zielsetzung, durch humanspezifische Forschung bessere Behandlungsmethoden zu finden, den finanziellen und zeitlichen Aufwand dafür zu reduzieren und den Tierversuch zu ersetzen.


Gegenüber dem letzten MPS-Summit in New-Orleans war die Teilnehmerzahl noch einmal erheblich angestiegen. Über die Hälfte der TeilnehmerInnen waren WissenschaftlerInnen - viele NachwuchsforscherInnen, die ihre aktuellen Ergebnisse vorstellten, mehr als ein Drittel kamen aus der Industrie, jedoch waren auch zahlreiche VertreterInnen von Regulationsbehörden, Regierung und natürlich Nicht-Regierungsorganisationen zugegen. Dem Kongress war eine Reihe von Ausbildungsworkshops vorausgegangen, bei denen Start-ups ihre State-of-the Art-Entwicklungen vorführten und interessierten angehenden WissenschaftlerInnen nahebrachten.

 

MPS Summit 2023 in Berlin.
Foto: Christiane Hohensee

 

Bis auf wenige Ausnahmen stellten die WissenschaftlerInnen Ergebnisse aus entwickelten miniaturisierten Organ-ähnlichen Systemen vom Menschen und nicht vom Tier vor. Zahlreiche Forschergruppen und Hersteller informierten über neu entwickelte mikrofluidische Systeme, Kulturmedien ohne tierische Inhaltsstoffe, Biomarker, bildgebende Verfahren oder Computerlösungen.

An dieser Stelle kann nur eine kleine Auswahl dargestellt werden.

Start-ups stark dabei

Zahlreiche Start-ups haben den Kongress mit ihren Dienstleistungsangeboten bereichert. Häufig waren Sie auch mit Vorträgen oder Postern zu aktuellen Forschungsergebnissen dabei. So z.B. das Start-up DNTOX, eine Ausgründung des Leibniz-Instituts für umweltmedizinische Forschung Düsseldorf, oder die bereits länger etablierten Unternehmen TissUse GmbH aus Berlin, Hesperos Inc., aus Orlando, Florida sowie emulate Inc. aus Boston, Massachusetts, USA.

So hat DNTOX aus Düsseldorf unter der Leitung von Prof. Ellen Fritsche und Dr. Katharina Koch eine In-vitro-Testbatterie auf der Grundlage des eigens entwickelten Neurosphären-Assay mit menschlicher neuraler Vorläuferzellen (hNPCs) entwickelt. Ziel ist es, beim Testen von Chemikalien auf Hormonwirksamkeit auch die hormonempfindlichen Schlüsselereignisse der Nerven- und Hirnentwicklung abzudecken. Mit ihrer Testbatterie haben die Forscherinnen und Forscher sowohl geschlechts- als auch artspezifische Abhängigkeiten der hormonellen Aktivität während der Gehirnentwicklung festgestellt.

Die japanische Firma USHIO Inc. eine künstliche Intelligenz dazu eingesetzt, das Neuriten-Wachstum in der Kultur zu analysieren, nachdem diese mit Chemikalien behandelt worden war. Damit können genauere Aussagen getroffen werden als mit herkömmlichen bildgebenden Verfahren.

Großes Thema: Krankheitsmodelle auf dem Chip

Noch immer erkranken weltweit 200 Millionen Menschen an Malaria, 600.000 sterben daran. Daher hat das Human-on-a-Chip-Unternehmen Hesperos aus Orlando unter der Leitung von Prof. James Hickman zur Erforschung besserer Behandlungsmöglichkeiten ein Malaria-Krankheitsmodell entwickelt, das vier menschliche Gewebekonstrukte enthält. Zu den eingesetzten Zelltypen gehören Hepatozyten, ein weißer Blutzelltyp aus der Milz (Splenozyten), Endothelzellen und rezirkulierende rote Blutkörperchen, die in einem mikrofluidischem System kultiviert werden. Durch eine Infektion mit dem Malariaerreger Plasmodium falciparum kann eine Erkrankung simuliert werden. Dabei wurden sowohl ein mit Chloroquin bekämpfbarer, als auch ein Chloroquin-resistenter Malariastamm eingesetzt.  Chloroquin ist ein gängiger Arzneistoff zur Therapie und Chemoprophylaxe der Malaria.

Eine Zahnfleischentzündung entsteht in den meisten Fällen durch Bakterien in der Mundhöhle. Die Erkrankung ist unter der Bevölkerung sehr weit verbreitet. Prof. Dr. Chiara Ghezzi und ihr Team von der University of Massachusetts Lowell haben ein anatomisches 3D-Modell des menschlichen Zahnfleischgewebes entwickelt mit Integration eines physiologischen Maßes an diversen Bakterien, um die Interaktionen mit dem Mikrobiom untersuchen zu können. Das Gewebes basiert auf menschlichen Primärkulturen, auch ein natürlicher Sauerstoffgradient in der nachgebildeten Zahnfleischtasche konnte simuliert werden. Das Modell wird für Studien zur Untersuchung von Wirt-Pathogen Ungleichgewichten bei Gingivitis und Parodontalerkrankungen genutzt.

Während einer entzündlichen Darmerkrankung können therapeutische probiotische Bakterien die Homöostase wiederherstellen. Emulate Inc. hat hierfür ein physiologisch relevantes humanes Colon Intestine-Darmodell zur Untersuchung des Darmepithels vorgestellt. untersucht wurde dabei, inwieweit Lactobacillus rhamnosus in der Lage ist, Studie war es, das Darmepithel vor Entzündungen zu schützen. Die Behandlung mit Interferon-gamma führte in einem Teilprojekt zu Anzeichen einer Schädigung des Kolonepithels. Ein gängiges Immunsuppressivum zur Behandlung von Colitus ulcerosa führte genauso wie Lactobacillus rhamnosus zum Schutz des Darmepithels und Unterdrückung der Entzündung.

Die Firma IVTech aus Pisa hat ein Modell entwickelt, mit dem Bluthochdruck und Herzrhythmusstörungen im mikrofluidischen System simuliert werden können. Die Technik ist u.a. interessant für ForscherInnen von Gefäßstörungen wie zB. Artherosklerose, die ein derartiges Modell nutzen könnten.

 

Bluthochdruckmodell
Foto: Christiane Hohensee


Das Endometrium ist eine komplexe Schleimhautbarriere, die bei Frauen an ungewohnter Stelle wuchern, durch den ganzen Körper wandern und zu lähmenden Schmerzen und Unfruchtbarkeit führen kann. Die Erkrankung wird Endometriose genannt. In einem mikrophysiologischen Modell haben britisch-amerikanische ForscherInnen unter der Leitung von Linda Griffiths, PhD vom Massachusetts Institute of Technology (MIT) und anderen ein Endometrium gezüchtet, das wie bei der Endometriose physiologisch gestört war und Gewebeschäden aufwies.

Ein Schwerpunkt: Entwicklung und Reproduktion

Den menschlichen Reproduktionstrakt zu simulieren ist nicht leicht. Trotz hormoneller und funktioneller Unterschiede zwischen dem Menschen und Nagetieren werden derzeit noch immer unzählige Tierversuche durchgeführt. Auch in vitro-Modelle kombinieren entweder aus ethischen Gründen z.B. Blastozyten der Maus, die sich in menschlichem Uterusgewebe des Menschen einnisten. Oder ist es schlichtweg noch zu schwierig, die Spermatogenese des Menschen in vitro nachzubilden.

Die Wissenschaftlerinnen Prof. Angela Russo und Prof. Joanna E. Burdette vom College of Pharmacy der Universität Illinois, Chicago, untersuchten mit einer neuen mikrofluidischen Plattform die Auswirkungen hoher Konzentrationen des Hormons Testosteron auf das menschliche Eileiterepithel. Androgene wirken auf die Funktion der Eierstöcke, indem sie die Entwicklung, das Wachstum und das Überleben der Follikel verändern. Erhöhte Androgene werden auch mit einem erhöhten Risiko für Eierstockkrebs in Verbindung gebracht. In der Untersuchung führte ein erhöhter Testosteronspiegel zu einer Hochregulierung des Signalproteins WNT4, das eine krebsfördernde Rolle bei vielen Krebsarten spielen soll, und der Migration und Invasion von immortalisierten menschlichen Eileiterzellen.

Roser Vento-Tormo, PhD, vom Wellcome Sanger Institute in Cambridge, UK, hat mit ihrem Team hat eine umfassende Karte des sich entwickelnden und erwachsenen menschlichen Fortpflanzungsgewebes erstellt. Sie wird genutzt, um die Entstehung von Fortpflanzungskrankheiten und Therapien zu untersuchen. Sie kann aber auch als Grundlage dienen, neue in vitro-Tests zu entwickeln. Dafür nutzte das Team Einzelzell- und räumliche Transkriptomik, Chromatin-Zugänglichkeitstests und Fluoreszenzmikroskopie. Bei Chromatin-Zugänglichkeitstests wird das Zellgenom durch enzymatische oder chemische Verfahren aufgetrennt und die unzugänglichen Bereiche dadurch zugänglich gemacht. Die DNA kann dann isoliert und sequenziert werden.

Ein britisch-niederländisches Forscherteam unter Beteiligung von Dr. Iris Müller von Unilever hat neue In-vitro-Tests für Endpunkte der Entwicklungs- und Reproduktionstoxizität (DART) vorgestellt. Das tut not, denn im Rahmen des Green Deals ist vorgesehen, verstärkt Chemikalien auf ihre Wirkung auf die Reproduktionsorgane, ihren Einfluss auf die Entwicklung, auf Hormone und das Immunsystem zu testen. Die neuen, hier vorgestellten tierfreien Methoden sind eine Kombination aus mehreren Tests. Dazu gehören eine mathematische Beschreibung und Vorhersage der Reaktionsgeschwindigkeiten von Substanzen in Organen und Geweben eines Organismus sowie die Messung der physiologischen Stressbelastung von Zellen und der mRNA-Expression von Zellen im Hochdurchsatz. Hinzu kommen eine Reihe in vitro Entwicklungs- und Reproduktionstoxizitätstests, die um den auf humanen Stammzellen basierenden in vitro-Assay ReproTracker® der Firma Toxys und den in vitro Assay devTox quickPredict™ der Firma Steminas erweitert worden sind. Ein Vergleich der Ergebnisse mit Literaturstudien zeigte eine mehr als 80 prozentige Übereinstimmung. Um die Ergebnisse zu verfeinern, um eine für den Menschen relevante Sicherheitsentscheidung zu ermöglichen, wurden weitere mikrophysiologische Systeme andiskutiert wie z.B. Plazenta-Transfermodelle zur Berechnung der Exposition des Fötus.

Ein Forscherteam der University of Washington, Seattle, unter der Leitung von Prof. Elaine Faustman, hat ein In-vitro-Modell zum Prüfen auf Toxizitätsmechanismen der postnatalen Hodenentwicklung konstruiert.  Leider haben sie dafür primäre Hodenzellen der Ratte verwendet. Die Zellen wurden in Matrigel auf einer Mikro-Kokultur-Platte gezüchtet. In regelmäßigen Abständen wurde das Kulturmedium auf Testosteron geprobt und die RNA aus den Zellen für weitere Untersuchungen isoliert.  Die physiologisch relevante Hodenentwicklung im Modell konnte bestätigt und die Testosteronproduktion über follikelstimulierendes und luteinisierendes Hormon gesteigert werden.  Phthalate dagegen lösten Entzündungssignale aus und beeinträchtigten die Entwicklung somatischer Zellen.

Weitere Informationen:
https://mpsworldsummit.com/