Montag, 19 Juni 2023 09:32

Tierfreie Arzneimittelentwicklung in den USA: Auseinandersetzung mit NAMs schafft Vertrauen Empfehlung

Ein Artikel aus Nature Medicine gibt einen guten Einblick in die derzeitige Diskussion um die Anerkennung von Ergebnissen aus tierfreien Methoden bei der Arzneimittelentwicklung.


Ende Dezember 2022 unterzeichnete der amerikanische Präsident Joe Biden den „FDA Modernization Act 2.0“. Nach diesem Gesetz muss die Sicherheit von Arzneimitteln nicht mehr zwangsläufig an Tieren getestet werden, um die Zulassung der U.S. Food and Drug Administration (FDA, staatliche Behörde zur Überwachung von Lebensmitteln, Medikamenten und Medizinprodukten) zum Starten einer klinischen Studie zu erhalten.

Der FDA Modernization Act 2021 "... erlaubt Herstellern und Sponsoren eines Medikaments, alternative Testmethoden zu Tierversuchen zu verwenden, um die Sicherheit und Wirksamkeit eines Medikaments zu untersuchen, ..." Daher wurde im Gesetzentwurf die Textpassage "Tier" gestrichen und durch "nicht-klinische Tests oder nicht-klinische Studien" ersetzt. Der Begriff "nichtklinischer Test oder nichtklinische Studie" bezeichnet einen Test oder eine Studie, die in vitro, in silico, in chemico oder in vivo vor oder während der Phase der klinischen Prüfung durchgeführt wird. Die sogenannten New Approach Methodologies (NAMs), unter denen überwiegend humanspezifische Methoden ohne Tierversuche wie zellbasierte Assays, Organ-on-a-Chips, mikrophysiologische Systeme, Computermodelle u.a., nicht auf Tieren basierende Testmethoden verstanden werden, haben sich in den letzten Jahren rasant entwickelt. Dadurch, dass sie auf der menschlichen Physiologie basieren, sind sie sehr aussagekräftig und liefern genauere Informationen als Tierversuche. Nur, wenn in letzter Konsequenz Untersuchungsfragen mit diesen Methoden nicht beantwortet werden können, wird ein Tierversuch in Betracht gezogen.

Es wird zunehmend anerkannt, dass in einigen Fällen Tiermodelle einfach nicht aussagekräftig sind, um die Wirksamkeit und Sicherheit neuer Medikamente zu verstehen, wird Dr. Nicole Kleinstreuer, Direktorin des Interagency Center for the Evaluation of Alternative Toxicological Methods des Nationalen Toxikologieprogramms  (NICEATM) zitiert.1 Nach Angaben der FDA werden in über 90% der in präklinischen Versuchen bereits getesteten Arzneimittel weder die Sicherheit noch die Wirksamkeit nachgewiesen, wenn sie am Menschen getestet werden. Bessere Methoden sind also wünschenswert.

Hinzu kommt, dass es für entwickelnde Unternehmen von Arzneimitteln attraktiv wäre, die zeitaufwändigen und teuren Prozeduren am Tier weglassen zu können. Den Erfahrungen von Herstellern tierfreier Methoden zufolge zeigen sie durch die neue amerikanische Rechtslage zunehmendes Interesse in die neuen Methoden und investieren hier.

Der Tierversuch ist dadurch nicht sofort beendet, aber die Regulationsbehörden müssen sich mich mit den Ergebnissen aus den neuen Methoden zunächst einmal definitiv auseinandersetzen, werden quasi mit ihnen vertraut und lernen ihre Leistungsfähigkeit kennen, äußerte unlängst ein ehemaliger Sanofi-Manager - dem Konzern, der als erstes bei der FDA eine Zulassung für eine klinische Studie erhalten hatte. Allerdings sollten auch Sicherheitsdaten aus früheren Tierversuchen mit dem Medikament für eine frühere Indukation stammen.1

Internationale Arzneimittelkonzerne haben auf jeden Fall ein Interesse an den neuen Methoden: unlängst hat sich die Chefin des Darmstädter Dax-Konzerns Merck, Belén Garijo2, dafür ausgesprochen, die Zahl der Tierversuche zur Entwicklung und Produktsicherung von Arzneien und Chemikalien in den kommenden Jahren deutlich senken zu wollen. Auch Roche will die Anwendung von NAMs erheblich ausweiten. Deutlich äußerte sich auch z.B. die Deutsche Gesellschaft für Endokrinologie (DGE). Tierversuche müssten weiter reduziert werden, weil die tierversuchsfreien Methoden immer besser würden, so DGE-Vizepräsident Jan Tuckermann.3

Die Furcht geht bereits um, dass Regulationsbehörden der Lobbyarbeit von Biotech- und Arzneimittelunternehmen unterliegen könnten. Damit werden die Regulationsbehörden möglicherweise unterschätzt. Sie forschen selbst an NAMs in eigenen Labors und kooperieren bei der Validierung mit  den National institute of Health (NIH). Auch Forscher wie Prof. Donald Ingber, Gründungsdirektor des Wyss Institute for Biologically Inspired Engineering an der Harvard Universität, sehen derzeit ihre Entwicklungen als Verfahren zur Reduktion von Tierversuchen, also zu nutzen, bevor sie in abschließende Tierversuche  zur Untersuchung unerwarteter Nebenwirkungen im ganzen Körper stattfinden. Der neue amerikanische Modernization Act 2.0 schließt den Tierversuch ja auch nicht völlig aus.

1 Moutinho, S. Researchers and regulators plan for a future without lab animals. Nat Med (2023). https://doi.org/10.1038/s41591-023-02362-z
2 https://www.zeit.de/news/2023-05/26/merck-chefin-garijo-fuer-ausstieg-aus-tierversuchen?utm_referrer=https%3A%2F%2Fwww.ecosia.org%2F
3 https://www.aerzteblatt.de/nachrichten/143580/Tierversuche-weiter-reduzieren