Montag, 05 September 2016 20:59

EUSAAT-Kongress zu Tierversuchsalternativen 2016 in Linz Empfehlung

Zum 20. Male öffnete die Johannes-Keppler-Universität vom 24. bis zum 28. August ihre Türen, damit sich Forscher über die neuesten Entwicklungen von Tierversuchsalternativen austauschen konnten. Schwerpunkte in diesem Jahr waren unter anderem Lab-on-a-Chip-Systeme, Teststrategien, Stammzellen und Ersatzverfahren für Impfstoffe und Biologicals, aber auch Methoden für die Verfeinerung von Tierversuchen.   

Es kamen 307 Forschergruppen aus 24 Ländern. Für Nachwuchswissenschaftler ist der Kongress ein fester Ankerpunkt, um Erfahrungen bei der Vermittlung und Auseinandersetzung der eigenen Forschungsergebnisse zu sammeln.      

Der EUSAAT-Kongress sei "der einzige Kongress, der die breiten Bereiche der 3R abdeckt", so Prof. Dr. Ellen Fritsche, Präsidentin der Europäischen Society for Alternatives to Animal Testing (EUSAAT) in ihrer Eröffnungsrede. Nach so vielen Jahren sei "der Kongress noch immer lebendig und zum ersten Male sei auch das Thema Bioprinting vertreten", so freute sich die Präsidentin.

                                                                                                                                                                                           


EUSAAT-Präsidentin Prof. Ellen Fritsche während der Eröffnungsrede.
Foto: Christiane Hohensee


Europäisch-Amerikanisches Bündnis vereinbart


Nachdem EUSAAT und die Japanese Society for Alternatives to Animal Testing (JSAAE) in 2015 haben ihre Zusammenarbeit bekundet hatten, haben die Europäer und die Amerikaner, besser die American Society for Cellular and Computational Toxicology (ASCCT), auf dem Kongress vertreten durch die IIVS (Institute for in vitro Sciences), ab diesem Jahr eine engere Zusammenarbeit vereinbart.





Dr. Erin Hill für die ASCCT und Prof. Ellen Fritsche für die EUSAAT bekundeten ihre engere Zusammenarbeit.
Foto: Christiane Hohensee


Nationale Ausschüsse und Tierschutzgremien: Bedarf an Harmonisierung

Dr. Susanna Louhimies von der Europäischen Kommission in Brüssel berichtete über Herausforderungen bei der Umsetzung des Tierschutzgremiums und des Nationalen Ausschusses gemäß der Europäischen Tierversuchsrichtlinie 2010/63/EU: Die Tierschutzgremien bräuchten Managementunterstützung, damit sie funktionieren könnten. Kompetente Mitarbeiter müssten eine Art "culture of care" einrichten, außerdem bräuchte es eine "Mitsprachekultur", um die Mitarbeiter zu ermutigen, sich bei Tierschutzbelangen einzubringen, sich verantwortlich zu fühlen und die Initiative zu ergreifen.

Dr. Justiyna Chmielewska, Juristin beim Bundesinstitut für Risikobewertung, berichtete über den Nationalen Ausschuss in Deutschland. Unter seiner Leitung sind bereits zwei Workshops durchgeführt worden. Themen waren die Einschätzung der Schweregrade bei Nagetieren und Fischen. Sie wies auf Schwierigkeiten bei der Umsetzung der EU-Tierversuchsrichtlinie hin, weil langjährige Administrationsprozesse in den einzelnen Bundesländern manchmal unterschiedlich seien. Dies bestätigte auch Dr. Henning Steinicke von der Leopoldina in Halle: Probleme bei der Umsetzung der EU-Tierversuchsrichtlinie seien durch regionale Unterschiede bei der Interpretation des Gesetzes und der Regularien bedingt.

In Schweden wird dagegen die mangelnde Konsistenz zwischen den unabhängig arbeitenden Ethikkommissionen bemängelt. Für einheitliche Entscheidungen fehle es an "best practise" Protokollen. Bislang hat der Nationale Ausschuss in Schweden Kurse zu den Themen Ethik sowie Schmerzen und Leiden für die regionalen Ethikkommissionen angeboten.

Dr. Irmela Ruhdel für die Eurogroup for Animals gab einen Überblick über den Stand der Umsetzungsprozesse in den europäischen Mitgliedsstaaten, der durchaus uneinheitlich sei, wie sie bemängelte. Zum Beispiel sei in Frankreich eine ethische rückblickende Bewertung von Tierversuchen gar nicht vorgesehen. Die Tierversuchsgenehmigungsprozesse in den Mitgliedsstaaten seien zudem parteiisch, denn die genehmigenden Behörden hätten ein Prüfrecht und könnten keine eigene ethische Bewertung vornehmen.


EU-Forschungsprojekte müssen mit weniger Mitteln auskommen
 
Dr. Mardas Daneshian von CAAT Europe stellte die Planungen des neuen Projektclusters EU-ToxRisk vor. Zwar ist dieser Cluster wahrlich das derzeitige EU-Flagschiff auf dem Gebiet der Alternativen zu Tierversuchen. Die Finanzierung in Höhe von insgesamt 30 Mio. Euro für beteiligte 39 Forschergruppen nähme sich aber im Vergleich zum Vorgänger-Forschungscluster Seurat-1 mit rund 220 Mio. Euro bescheiden aus, hieß es.


Warum Tierversuche nichts mit der realen Welt der Patienten zu tun haben

Michael Liebman, Biomedizin-Informatiker und Gründer von ipq analytics in Kennett Square, Pennsylvania, klärte das Publikum in seiner Key Not-Lecture über die "reale Welt" der Patienten und der Medizin auf - eine Sphäre, die durch Tierversuche nicht erreicht werden kann. Krankheit sei "ein Prozess und kein Zustand. 55 Prozent aller Patienten in den USA litten unter 5 oder mehr Erkrankungen" (sogenannte Ko-Morbidität). Zudem könnten die Stoffwechselwege, seien sie bei Mensch und Tier auch gleich, trotz alledem in den verschiedenen Spezies unterschiedlich operieren. Auch seien die kinetischen Parameter in einem Gesamtorganismus gar nicht zu bestimmen. Deshalb seien Tiermodelle kein sicheres und effizientes Mittel, um die Patientenwirklichkeit abzubilden.

Ein Test für zwei Toxine

Dr. Heike Behrensdorf-Nicol vom Paul-Ehrlich-Institut in Langen stellte ihren BINACLE (BINding And CLEavage) Assay zum Aufspüren kleinster Mengen an Tetanus- oder auch Botulinumtoxinen vor. Dieser in vitro-Test kommt ohne Zellen aus und macht sich die Fähigkeit des Toxins zunutze, an spezifische Rezeptormoleküle auf Nervenzellen zu binden und Substratprotein im Inneren der Nervenzelle zu spalten. Also werden nur diese
Rezeptormoleküle allein auf Mikrotiterplatten aufgebracht und mit der Testflüssigkeit zusammengebracht. Der Test ist hoch spezifisch und äußerst sensitiv. Pro Jahr können im Bereich der Tetanustoxintestung eine Vielzahl an Meerschweinchen und bei der Botulinumtoxintestung rund 50.000 Mäusen vor dem Tierversuch bewahrt werden. Das Forscherinnenteam hat für den Test den Ursula M. Händel-Tierschutzforschungspreis der Deutschen Forschungsgemeinschaft gewonnen und war beim EUSAAT-Kongress außerdem Preisträger des diesjährigen ALTEX-Publikationspreis.





Dr. Heike Behrensdorf-Nicol vom Paul-Ehrlich-Institut nahm in Vertretung für das gesamte Team den ALTEX Preis von Dr. Mardas Daneshian, Präsident von ALTEX, entgegen.
Foto: Christiane Hohensee


Validierbarkeit von Teststrategien: ECVAM und die Funkstille

Ein Round-Table-Meeting befasste sich mit dem wichtigen Thema der Validierung von Teststrategien. In der Toxikologie können oft Fragestellungen nicht mit einem in-vitro-Test, sondern nur mit einer Abfolge mehrerer Tests, einer sogenannten Teststrategie beantwortet werden. Dies betrifft z.B. das neue Ersatzverfahren zum Tierversuch im Bereich der Hautsensibilisierung, der aus einer Abfolge von drei Tests besteht (OECD Testrichtlinien 442 C, D und 4E). Nun haben die Einzeltests einen Validierungsprozess erfolgreich durchlaufen, die Teststrategie als solche jedoch nicht. Die Einzeltests sind dadurch verpfichtend anwendbar, nicht jedoch die Ablaufstrategie, die eine festgelegte Kombination dieser Tests vorsieht. Und die ist erforderlich, um die notwendigen Testergebnisse in der notwendigen Qualität zu erhalten.
Dr. Robert Landsiedel arbeitet seit vielen Jahren bei der BASF an der Entwicklung von Ersatzverfahren zum Tierversuch. Im Jahre 2011 bereits hat er eine integrierte Teststrategie (ITS) an die europäische Validierungsbehörde ECVAM geschickt. "2014 dann", so Dr. Landsiedel, "wurde IATA erfunden" (Integrated Approaches to Testing and Assessment, z.B. im Bereich der Hautreizung und -ätzung). Es ist ein neuer Ansatz, der im Gegensatz zur Konzeption der integrierten Teststrategie flexible einzelne Tests als Bausteine zur Untersuchung der Toxizität einer Chemikalie zulässt, während die Tests bei der integrierten Teststrategie eindeutig definiert sind. IATA hat aber scheinbar den ITS-Ansatz verdrängt. Und genau hier liegt das Problem: "Eine Validierung von IATA ist wegen der Flexibilität der Methoden schwierig", so Dr. Stephanie Bopp von der europäischen Validierungsbehörde ECVAM. "Allenfalls könnten Elemente innerhalb IATAs validiert werden, hieß es im Vortrag der Wissenschaftlerin aus Ispra.
Dr. Landsiedel wies darauf hin, dass seine ITS-Konzeption nicht flexibel ist und daher validiert werden kann. Dies wurde 2011 auch beantragt. Inzwischen die meisten Wissenschaftler zum IATA-Konzept und nicht mehr von der ITS-Konzeption. Dies ist jedoch für die bereits zugelassenen Ersatzverfahren im Bereich der Augen- und Hautreizung sowie der Hautsensibilisierung nicht nötig, da hier ITS ausreiche, um aussagekräftige Ergebnisse zu erzielen. Aber solange das ITS-Konzept nicht validiert und in die OECD-Testguidelines aufgenommen worden ist, ist eine integrierte Teststrategie nicht verpflichtend anzuwenden. Haben die durchgeführten Einzeltests nicht die Aussagekraft, setzen sich die Hersteller möglicherweise wieder für die Durchführung von Tierversuchen ein.




Round-table-Gespräche zum Thema Teststraegien.
Von links nach rechts: Magdalini Sachana (OECD Paris), Dr. Stephanie Bopp (EVCAM), Dr. Derek Knight (ECHA Finnland), Dr. Stefan Scholz (UFZ Leipzig), Dr. Roger Curren (IIVS) und Dr. Robert Landsiedel (BASF).
Foto: Christiane Hohensee


Neues aus der Ökotoxikologie

Die Wissenschaftler des Unternehmens Teco medical haben eine nichtinvasive Methode entwickelt, um hormonwirksame Substanzen in Gewässern zu testen. Seit vielen Jahren ist bekannt, dass sich endokrin wirksame Substanzen in einer Verweiblichung von Fischen äußern bzw. die Reproduktionsfähigkeit männlicher Fische beeinträchtigt werden kann. Deshalb testen Wissenschaftler Substanzen mit dem Vitellogenin-Test (z.B. OECD Testrichtlinie 234). Vitellogenin ist ein Eidotter-Vorläuferprotein normalerweise beim weiblichen Fisch erzeugt. Im Wasser befindliche hormonwirksame Substanzen können jedoch am Östrogenrezeptor der Fische binden und so eine Vitellogenin-Synthese auch im männlichen Fisch auslösen. Deshalb nutzt man die Vitellogenin-Synthese als Biomarker für das Vorkommen hormonwirksamer Substanzen im Wasser. Getestet wird laut Testrichtlinie in Blut- oder Leberproben des japanischen Reiskärpflings, Stichlings, Zebrafischs oder der Elritze.

Teco Medical nimmt anstelle Blut- und Leberproben Schleimhautproben von der Körperoberfläche der Fische mit einem Wattestäbchen. Dafür wird der Fisch kurz dem Wasser entnommen und danach sofort wieder zurückgesetzt. Die Probenanalyse erfolgt wie gewöhnlich über ein ELISA-Verfahren.
Das Unternehmen arbeitet ferner an einer Alternative zum sogenannten S9-Mix, der aus Rattenleberzellen gewonnen wird.  


Humane Krankheits- und 3D-Modelle

Humane Krankheitsmodelle "disease-on-a-dish" sind immer ein interessantes Thema, weil sie in den Grundlagenforschungsbereich einstrahlen und dem Ziel, in Zukunft einmal einen systemischen Organismus in-vitro simulieren zu können, etwas näher kommen. Außerdem werden unzählige Tiere zur Erforschung von Krankheiten verbraucht. In diesem Jahr lag ein Schwerpunkt auf den Lungenerkrankungen. Mehrere einschlägige Gruppen warteten mit neuen Ergebnissen auf:

Das Wissenschaftlerteam um Prof. Claus-Michael Lehr hat unter anderem eine neue humane Alveolarzelllinie entwickelt, die in ihren Eigenschaften der Luft-Blut-Barrierefunktion die in-vivo-Situation im Menschen gut darstellen kann. Die Alveolen sind die Lungenbläschen und für den Gasautausch in der Lunge verantwortlich. Sie bestehen aus zwei Zelltypen, den Alveolartypen I und II. Das hier entwickelte Modell besteht aus dem Zelltyp I (Typ II ist für Oberflächenproteine zuständig, um die Oberflächenspannung herabzusetzen). Zelltyp I ist für die Barriere zwischen Blut und Luftraum der Lunge zuständig. Den Forschern gelang es, diesen Zelltyp mit einem Lentivirus zu immortalisieren. Die Zellen bilden interzelluläre Verbindungen (tight junctions) mit einem hohen transepithelialen Widerstand aus. Die Zellen können genutzt werden, um die Wirkung von eingeatmeten Substanzen auf die Zellen durch Messung z.B. des transepithelialen Widerstands zu messen. Die Forschung an Zellkulturen tieferer Lungenschichten ist von großer Bedeutung, da oberflächliche Schichten normalerweise durch Schleim und Zilien dafür sorgen, dass inhalierbare Substanzen oder Stäube gar nicht in die tieferen Schichten gelangen, sondern gleich abtransportiert werden. Für den Fall, dass Substanzen doch diese Barriere durchschreiten oder für Arzneimittel werden daher Erkenntnisse über die Mechanismen in tieferen Lungenschichten dringend benötigt (siehe ALTEX 03/16).

Prof. Michaela Aufderheide von Cultex Laroratories und ihr Team hat normal differenzierte humane Bronchialepithelzellen 10 Tage lang jeden Tag regelmäßig mit Zigarrenrauch übe die an der Luft-Flüssigkeit Schnittstelle der Zellkultur exponiert. Das Team konnte eine Reduktion von Zilien-tragenden und Schleimhautbildenden Zellen beobachten. Nach Abschluss der Versuche entdeckten sie zudem metaplastische Veränderungen in der mittleren Zellschicht des Lungengewebes.

Dr. Samuel Constant, CEO des schweizer Unternehmens Oncotheis, stellte ein neues in vitro-Lungenkrebsmodell aus humanen Zellen vor. Es heißt OncoCilAir und besteht aus Lungenepithelgewebe, humanen Lungenfibroblasten und einer Lungenadenokarzinomzelllinie. Das kombinierte Gewebe ist länger als drei Monate lebensfähig. Das Modell kann genutzt werden, um Krebsmedikamente auf ihre Wirksamkeit gegen Lungenkrebs-
zellen zu testen oder auf eine evt. schädigende Wirkung auf gesunde Lungenzellen.


Refinement


In diesem Jahr stand das Thema Verfeinerung von Tierversuchen (Refinement) im Zeichen der Beurteilung des Schweregrades, dem Tiere in Versuchen ausgesetzt sein können. Hierzu hielten die Federation of Laboratory Animals Science Association in Kooperation mit der European Society for Laboratory Animal Veterinarians und dem European College of Laboratory Animal Medicine und der deutschen FELASA ein Seminar für interessierte Teilnehmer ab. An einer europaweit einheitlichen Beurteilung der Schweregrade wird derzeit noch gearbeitet.

Das niederländische Medizincenter Syrcle klärte die Zuhörer über die Notwendigkeit eines systematischen Reviews auf, bevor Tierversuche durchgeführt werden. Ein solche Review führe zu einer geeigneteren Tierauswahl, biete mehr Transparenz und soll zudem helfen, den Schweregrad besser zu beurteilen.

Links:
http://eusaat-congress.eu/images/2016/Abstractbook_Linz_2016_EUSAAT_2016_low_res.pdf