Samstag, 04 September 2021 18:39

Weltkongress zu Alternativen und Tiernutzung in den Lebenswissenschaften Empfehlung

Zwischen dem 23. August und dem 3. September 2021 fand der 11. Weltkongress zu Alternativen und Tiernutzung in den Lebenswissenschaften statt. Er hätte eigentlich im letzten Jahr bereits in Maastricht stattfinden sollen, war jedoch Corona-bedingt um ein Jahr verschoben und virtuell veranstaltet worden. Mehr als 1.000 Teilnehmer aus den Bereichen Akademia, Industrie, Regulationsbehörden und NGOs hatten sich zu diesem Ereignis angemeldet, das unter dem Motto stand „3Rs in transition – from development to application“. Aber sind die Verfahren schon in der Zielgeraden zur Anwendung angekommen?

In der Einführung zuversichtliche Worte
Prof. Martin Paul, Präsident der Maastricht University, zeigte sich in seiner Eröffnungsrede überzeugt, dass die Zukunft der Ausstieg aus den Tierversuchen sei. Christian deSaintes, Policy Officer bei der Europäischen Kommission betont, dass die Europäische Kommission eine starke Unterstützerin von Alternativen zum Tierversuch sei und listete auf, dass mehr als 140 Projekte mit einem Jahresbudget von 11 Millionen Euro jährlich unterstützt worden seien, der Haushalt der Innovative Medicines Initiative (IMI) betrage zudem 48 Mio. Euro jährlich. Das IMI Projekt eTox z.B. wurde mit 7 Mio. Euro von der Europäischen Kommission und mit 12 Mio. Euro von der Pharmaindustrie finanziert. Dies habe zu einer großen Datenbank mit 1000 Arzneimitteleintragungen geführt. Förderschwerpunkte im EU-Förderprogramm Horizon 2020 waren die Erforschungen von Leber, Lunge, Nieren- und Herztoxizität, der Karzinogenität und endokriner Störungen. Auch die Coronaforschung sei bedacht worden: Zahlreiche Organoidentwicklungen hätten zum Studium des Coronavirus Sars-Cov-2 beigetragen, so z.B. Lungenorganoide. Zudem ermittle die europäische Validierungsbehörde EURL ECVAM Adverse Outcome Pathways der Covid-19- Pathogene.

Validierung in zahlreichen Facetten
EURL ECVAM hat, so berichtete der Leiter Dr. Maurice Whelan, hat mittlerweile seit Bestehen über 100 Methoden validiert. Eines der aktuellen Projekte ist u.a. die Entwicklung einer Teststrategie zur Beurteilung der Entwicklungsneurotoxizität von Substanzen. Er berichtete z.B. über die Validierung von definierten Ansätzen im Bereich der Hautsensibilisierung. Einige Ansätze nutzen bereits OECD-validierte in-chemico- und in-vitro-Testdaten, um die Gefahr einer Hautsensibilisierung zu ermitteln. Derartige Daten werden nach einem bestimmten mathematischen Verfahren interpretiert. Die Ansätze haben die gleiche oder sogar höhere Aussagekraft als der herkömmliche Mäuseversuch. Validiert wurden ferner Methoden, mit denen sich die Störung der Schilddrüse untersuchen lässt, sowie PBK-Modelle. Aber auch mit dem Standardisierungsbedarf für Organ-on-a-Chip-Technologien hat sich ECVAM beschäftigt.

Für die Validierung wird schematisch nach einem Verfahren aus Modulen bestehend vorgegangen, wie Prof. Aldert Piersma vom RIVM National Institute of Public Health and Environment Utrecht berichtet. Er beschreibt einen neuen Ansatz in der Gefahr und Risikobewertung von Substanzen. Sie geht von einem virtuellen physiologischen In-silico-Modell des Menschen aus; fehlende Daten werden durch spezielle in-vitro-Tests ergänzt. Der Ansatz berücksichtigt alle bereits vorhandenen Kenntnisse der Chemie und Toxikologie. Ein intakter Organismus wie von einem Tier ist bei diesem Ansatz nicht notwendig.

Der Frage, was notwendig ist, um die Effizienz des Akzeptanzprozesses neuer tierfreier Methoden zu bessern, ist Rebecca Clewell von 21st Century Tox Consulting LLC, North Carolina, nachgegangen. Schlüsselkomponenten biologischer Signalwege (Adverse Outcome Pathways; AOPs) sollten identifiziert und in das Testsystem miteinbezogen werden, anstatt bei der Validierung die Ergebnisse aus neuen Methoden mit Tierdaten zu vergleichen. Carl Westmoreland von Unilever erklärt eine neue Sichtweise auf die Risikobewertung mit einer neuen Expositionswissenschaft. Der Ansatz sollte der Schutz des Menschen und nicht die Vorhersage sein - also weg von Studien mit hohen Dosen im Tier, um einen schädigen Einfluss von Stoffen quasi zu suchen: Wenn sich keine Bioaktivität in Konsumenten-relevanten Konzentrationen zeigt, wird es auch keine schädigenden Effekte geben.

Längst überfällig: Wegfall der qualvollen 2-Jahres-Karzinogenitätstests
Dr. Warren Casey vom National Toxicology Program (NTP) stellt den Cancer Genom Atlas mit über 20.000 molekular charakterisierten Krebsproben, den Pan-Cancer-Atlas mit Informationen von über 11.000 analysierten Tumore und z.B. das Apollo-Netzwerk vor, das DNA-, RNA und Proteinexpressionen von 8.000 Humangeweben analysiert hat. Diese Datenbanken können für neue Ansätze in der Karzinogenitätsprüfung genutzt werden. Die derzeitigen Tests an Nagetieren wurden vor über 50 Jahren entwickelt und noch immer werden Testprotokolle aus dem 1976 eingesetzt für den menschlichen Schutz - trotz zahlreicher neuer medizinischer Erkenntnisse.

Chris Corton von der Environmental Protection Agency erklärt, wie die qualvollen 2-Jahres-Karzinogenitätsstudien an Nagetieren beendet werden können: nämlich durch die Erfassung von Genexpressions-Biomarkern aus den Kurzzeit-Studien an Nagetieren, wodurch sich Leberkrebs-auslösende Substanzen schon frühzeitig identifizieren lassen. Signalweg-geführte Computeransätze können ebenfalls dafür zum Einsatz kommen. Dies würde den qualvollen Langzeittierversuch beenden und zumindest eine Reduktion von Tierversuchen ermöglichen. Mechanistische Daten sind der Schlüssel zur Indentifizierung von Krebsgefährdungen, meint Dr. Kate Guyton von den National Academy of Sciences.

Dr. Gina Hilton von PETA klärt über das Projekt ReCAAP (ReThinking Carcinogenicity Assessment for Agrochemicals Project) auf, an dem internationale Regulationsbehörden und vor allem Pestizid-herstellende Konzerne beteiligt sind. Ziel des Projekts ist es, einen Handlungsrahmen zu entwickeln, um zu bestimmen, wann auf die Tierversuche auf Karzinogenität durch einen neuen Ansatz verzichtet werden kann.

Natalie Delrue von der OECD informierte über einen neuen integrierten Testansatz für eine bestimmte Gruppe von krebsauslösenden Substanzen (nicht-genotoxische Karzinogene). Derzeit wird eine Datenbank mit möglichen Assays bewertet und ein Leitdokument für die Teststrategie entwickelt.

Neues von der Organ-on.-a-Chip-Front
Dr. Donald Ingber, Gründer des Wyss Institute for Biologically Inspired Engineering an der Harvard University, glaubt, dass seine bereits zahlreichen Organchip-Entwicklungen in den Arzneimittelentwicklungsprozess integriert werden können. Die Zukunft liege in der personalisierten Medizin mit Organ-on-Chips. Seine zahlreichen physiologischen Krankheitsmodelle geben die Krankheitsentstehung realistischer wieder als es durch einen Querschnitt an Patienten mit ihren Einflüssen durch sonstige Patienteneigenschaften der Fall wäre. 15-20 Organ-on-a-Chip-Modelle liegen inzwischen vor, auch bis zu 10 Organkombinationen stammen aus seinem Hause, wobei die Lebensdauer der Zellen und Geweben bis zu 4 Wochen beträgt.

Dr. Uwe Marx, Gründer von TissUse, verfügt mittlerweile über 23 verschiedene einsatzbereite Organ-on-a-Chip-Modelle in seinem Portfolio, Herausforderungen der nächsten Zeit werden die Automatisierung der Tests mit den Organ- und Multiorgan-on-a-Chip-Modellen sein, aber auch z.B., sogenannte humanisierte Tiermodelle mit NAMs zu ersetzen.

Um die nachgebildeten Organgebilde auf dem Chip realistischer und physiologischer zu gestalten, hat sich Prof. Andries van der Meer von der Universität Twente auf die Integration von Blutgefäßen fokussiert. Er stellte u.a. eine Retina auf dem Chip mit integrierten Blutgefäßen vor, mit dem sich Aspekte der altersbedingten Makuladegeneration, z.B. die Drusenbildung, untersuchen lassen. Hier werden derzeit noch unzählige Mäuse verwendet.

Fortschritte bei immunkompetenten Organ-on-a-Chip Modellen wie dem Lungenchip und auch dem Colon-Chip mit integrierten Immunzellen als Modell für entzündliche Darmerkrankungen (inflammatory bowel disease, IBD), die eine wichtige Lücke füllen werden, wurden von Dr. Lauriane Cabon von Roche, Basel vorgestellt.

Auch Prof. Peter Loskill von der Universität Tübingen stellte eine neue Generation of Eye-on-a-Chip für die ophthalmologische Forschung vor. Seine Netzhautorganoide enthalten bereits alle relevanten Zelltypen wie Photorezeptoren, Nervengewebe, Ganglienzellen, bipolare Zellen, Pigmentepithel oder Müllerzellen. Auch eine Aderhaut auf dem Chip hat das Forscherteam entwickelt.

Trotz all dieser Fortschritte hoben Adrian Roth, Roche, Basel und Lorna Ewart von Emulate Bio Boston hervor, dass die Akzeptanz dieser Systeme nach wie vor zu wünschen übrig lässt. Die Organ-on-a-Chip-Technologie könne zwar die Kosten um 26% reduzieren – jedoch fehle es an Standardisierung, beispielsweise der verwendeten Zellen. Die Systeme würden immer komplexer, womit aber auch die Reproduzierbarkeit sinke. Hier brauche es Konzepte und Strategien, um diese Systeme in die Anwendung zu bringen. Der Bedarf seitens der Pharmaindustrie sei auf jeden Fall vorhanden.

Datenmeer ohne KI nicht mehr händelbar
Für die Risiko- und Sicherheitsbewertung wird auch daran gearbeitet, künstliche Intelligenz (KI) nutzen zu können. KI sind flexible Programme, die lernen und ihre Problemlösungen anpassen können. Aus den riesigen Mengen an Datensätzen kann KI Muster herausarbeiten, die zur Vorhersage geeignet sind. Am Beispiel von Arzneimittel-bedingten Leberschäden (DILI) konnte gezeigt werden, dass ein neues sogenanntes Deep-Learning-Modell rund 70% der Arzneimittel-induzierten Leberschäden korrekt vorhersagen konnte.

Prof. Thomas Hartung vom Centre for Alternatives to Animal Testing (CAAT) spricht von Computer-unterstützter Toxikologie, für die z.B. Vorhersagemodelle, Datenanalysetools, PBPK- und QSAR-Modelle u.a. genutzt werden können. Die riesigen Datenmengen, die weltweit erzeugt werden, sind eine Herausforderung, die nur mit Hilfe großer leistungsfähiger Computerprogramme gestemmt werden können. Schließlich veröffentlicht allein PubMed pro Jahr ca. 2,5 Mio. Artikel – und diese Informationen können ohne Computerhilfe nicht ausgewertet werden. Ein Cheminformatics Tool-Kit von Underwriter Laboratories (UL), ein Prüflabor, das die Übereinstimmung mit den amerikanischen Sicherheitsbestimmungen testiert und Sicherheitsprüfzeichen vergibt, ist bereits in Australien anerkannt. Mit Künstlicher Intelligenz arbeiten auch Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in der EU: Erst im Mai 2021 ist das Projekt Ontox gestartet, das mit rund 17 Mio. Euro durch die Europäische Kommission finanziert wird. Während der fünfjährigen Projektlaufzeit wird eine sogenannte "generische Strategie" zur Entwicklung tierfreien Methoden (NAMs) ausgearbeitet, die dann auf jede Art von chemischen Giftigkeitseffekten von Pharmazeutika, Kosmetika, Lebensmitteln oder Bioziden bei wiederholter Verabreichung anwendbar sein soll. Die einzelnen NAMs werden auf modernster künstlicher Intelligenz basieren. Die Datengrundlage bilden verfügbare biologische/ mechanistische, toxikologisch/epidemiologische, physikalisch-chemische und kinetische Informationen. Werden Datenlücken durch KI identifiziert, so werden sie mit gezielten In-vitro- und In-silico-Tests geschlossen.

Organoidentwicklungen und Infektionskrankheiten
Insgesamt waren Organoidentwicklungen zur Untersuchung und Behandlung von Infektionskrankheiten ein wichtiges Thema. In vielen Fällen gibt es nämlich auch kein Tiermodell und wenn, sind die Daten schwer auf den Menschen zu übertragen. Niederländische Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler haben die humane Organoidkultur auf mikrophysiologischen Systemen dafür genutzt, um Virusinfektionen des Menschen zu studieren. Dafür haben sie z.B. die Darm-Hirn-Achse mit Immunzellen auf dem Chip nachgebildet oder auch die Eintrittsmechanismen von humanspezifischen Enteroviren studiert., wie z.B. Ikrame Aknouch, die im Rahmen des EU Projekts OrganoVIR in Amsterdam mit Darmorganoiden arbeitet oder Josse Depla, der mit Hirnorganoiden forscht.

Giftigkeitsprüfung: noch immer mangelndes Vertrauen in die neuen Methoden
Ähnliche Diskussionen wie bereits beim EU-Kongress „Putting Science into Standards“ im April dieses Jahres wurden in der Session NAMs im Bereich Agrochemikalien geführt. Prof. Alan Boobis vom Imperial College in London berichtete, dass Agrochemikalienhersteller keine Zulassungsanträge unter Verwendung von NAMs einreichten, weil die Regulationsbehörden diesen Ergebnissen kein Vertrauen schenkten.

Richard Currie von Syngenta sieht die größte Herausforderung in der globalen Harmonisierung der Methoden. Reizstoffe, die eingeatmet werden können, lassen sich durchaus mit in vitro- und in silico-Methoden charakterisieren. Die amerikanische EPA habe die Methoden für eine Substanz bereits akzeptiert. Ein Vorteil für den Hersteller sei auch, dass dann der (un)Sicherheitsfaktor wegfalle, der aufgrund der Speziesunterschiede durch Tierversuche berücksichtigt werden müsse (dadurch darf die Produktkonzentration höher sein).

Tierfreie Antikörperproduktion
Prof. Stefan Dübel von der Technischen Universität Braunschweig sieht Wissenschaft und Industrie kurz vor einem Umbruch in der Antikörperproduktion. Man dürfe die wissenschaftlichen Unzulänglichkeiten von aus Tieren gewonnenen Antikörpern nicht länger hinnehmen. In Europa habe der wissenschaftliche Beratungsausschuss ECVAM z.B. die wissenschaftliche Validität von tierfreien Ersatzmethoden bestätigt.

In Europa werden immer noch Antikörper im Tier produziert, aber vielfach lassen sie sich nicht reproduzieren, berichtete Dr. Joao Barroso von EURL ECVAM. In einem Workshop 2019 hatte das Wissenschaftliche Beratergremium von EURL ECVAM (ESAC) das Ergebnis herausgearbeitet, dass tierfreie Antikörper solche am Tier produzierten für die meisten Anwendungen ersetzen können. Die gipfelte in der ECVAM-Empfehlung, Antikörper für Forschung, Diagnostik und Therapie nicht länger im Tier herzustellen. Die Sequenzen sind definiert, die Antikörper sind reproduzierbar und in unbegrenztem Maße zu beziehen. Die Hersteller sollten eine schnelle Ausstiegsstrategie aus der Produktion von Antikörpern im Tier erarbeiten. Dies solle jedoch nicht als ein Verbot verstanden sein.

European Institute of Health gefordert
Viele biomedizinische Forscher wissen nichts über NAMs und nutzen Tiere, sie haben keinen Zugang zu derartigen Methoden, obwohl andere Forscher oft am gleichen Thema mit tierfreien Methoden forschen. Deshalb forderten einige Teilnehmer die Gründung eines European Institute of Health, bei dem aller derartigen Informationen zusammenlaufen. Zudem müssten verpflichtende Guidelines für das Anfertigen von Abstracts mit einer allgemein gültigen Anthologie entsprechenden Mesh Terms her, denn bei den jährlich publizierten 2,5 Mio. Publikationen lassen sich kaum ausreichend Informationen finden.
Es ist an der Zeit, die neuen Methoden auch in der Erforschung von Grundlagen und Therapien menschlicher Erkrankungen zu nutzen, meinte Dr. Lindsay Marsh von der Humane Society international. Es sollten Signalwege (AOPs) auch über die menschlichen Erkrankungen ermittelt werden ähnlich denen in der Toxikologie. Das neue EU-Projekt CIAO erarbeitet solch ein Rahmenwerk für die Covid19-Forschung. Ein anderes, derartiges Programm ist das BioMed 21-Collaboration, welches nach dieser AOP-Konzeption Krankheits-Fallstudien erarbeitet.

Große Bedeutung haben die NAMs für die Prinzipien der Risikobewertung der Nächsten Generation. Darunter verstehen Wissenschaftler, Industrie und Regulationsbehörden eine expositionsgeführte, Hypothesen-geleiteter Ansatz, der in silio-, in-chemico- und in vitro-Ansätze integriert. Im Falle, dass mit chemischen Ähnlichkeiten (Read across) gearbeitet wird, haben die NAMs eine große Bedeutung, so Dr. Gladys Ouédrago von L'Oréal, denn sie können bestehende Lücken schließen, Hypothesen können überprüft werden, über toxikodynamische und -kinetische Übereinstimmungen oder  Unterschiede zu der chemisch ähnlichen Substanz können NAMs Auskunft geben.

Einige Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler stellten auch den gegenwärtigen Entwicklungsstand der Teststrategie für die Entwicklungsneurotoxizität vor. Ein Entwurf eines ersten Leitdokuments für diese Teststrategie wird im vierten Quartal 2021 bzw. im ersten Quartal 2022 erwartet. Allerdings wird der Ansatz am Ende nicht ohne Tierverbrauch entwickelt: in den in vitro-Tests sind Kortikalneuronen von Ratten berücksichtigt und der Einsatz von Zebrafischembryos als letzte Möglichkeit vorgesehen, wenn alle Informationen und Testergebnisse nicht ausreichen.

Zahlreiche andere Entwicklung waren z.B. der Druck von humaner Haut mit Haarfollikeln, oder ein Hirnmodell auf dem Chip zur Untersuchung von neurodegenerativen Erkrankungen. Zudem gibt es mittlerweile kommerziell erhältliche Organoide zur Untersuchung der Parkinson-Erkrankung, die allerdings nur ergänzend zur in vivo-Forschung von den Forschern genutzt wurden. Die unzähligen Modelle können an dieser Stelle nicht alle vorgestellt werden.

Fötales Kälberserum: eine nach wie vor ungelöste Problematik
In der Einführung wurde das Ausmass des Tierschutzproblems nochmals ausdrücklich dargestellt. Der Bedarf an Fötalem Kälberserum (FKS) steigt ständig, und liegt mittlerweile bei ca. 2 Millionen Kälbern pro Jahr. Der Preis stieg von 160 Euro/Liter im Jahr 2015 auf 1216 Euro. Obwohl Föten von Säugetieren durch die EU-Gesetzgebung ausdrücklich geschützt sind, existiert bei der Blutentnahme durch Herzpunktion keine Anforderung beispielsweise zur Betäubung/Schmerzlinderung. Die Verwendung von FKS als Zusatz zu Zellkulturmedien sollte demnach in Genehmigungsprozessen eigens berücksichtigt werden.

Auf der website http://fcs-free.org sind mittlerweile 1502 Medien für 276 Zelltypen veröffentlicht. Die Bemühungen um einen Ersatz von FKS dauern an, wie insbesondere Dr. Aline Chary vom Luxembourg Institute of Science and Technology am Beispiel der bereits oben erwähnten Lungenzell-Linie A549 hervorhob, die erfolgreich auf kommerziell erhältliche FKS-freie Medien umgestellt werden konnten. Wichtig war hierbei ein schrittweises Vorgehen bei kontinuierlicher Überprüfung der Vitalität/Funktion der Zellen.

Rehoming von Labortieren
Im Rahmen der Culture of Care (CoC) wird zunehmend darüber nachgedacht, wie man Labortieren nach Abschluss des Versuches ein „zweites Leben“ vermitteln kann – vorausgesetzt sie sind nicht genetisch verändert, gesund und gut trainier- und händelbar. Dr. Paulin Jirkof von der Universität Zürich und Dr. Julika Fitzi vom Schweizer Tierschutz stellten hier eine erfolgreiche gemeinsame Initiative, die Vermittlung ehemaliger Laborratten in private Hände, vor. Wichtig ist hierbei, dass die Vermittlung in externe Hände gegeben wird, da die Universität diese Arbeit nicht zusätzlich leisten kann. Als Zwischenstation bei der Vermittlung dient hier der Club der Rattenfreunde, der die Tiere zwischenzeitlich aufnimmt und die neuen Besitzer mit seiner Erfahrung auf Herz und Nieren überprüft. Mit den neuen Besitzern wird ein Vertrag abgeschlossen, der bspw. die Einwilligung in Kontrollen regelt. Als Ansprechpartner für Interessenten dient der Schweizer Tierschutz. Die Initiative wird sehr gut angenommen. Momentan werden die Kosten allerdings vom Tierschutz getragen. Es wird angestrebt, bei Projekten, bei denen ein Rehoming möglich ist, dies von vornherein als refinement-Maßnahme in den Genehmigungsantrag zu schreiben und als Projektkosten zu verbuchen.

Pascalle van Loo, Tierschutzbeauftragte der Universität Utrecht, berichtete von vergleichbaren Bemühungen. Die EU-Richtlinie 2010/63/EU hält Tierschutzbeauftragte in wissenschaftlichen Institutionen an, das Rehoming zu fördern, wie auch Dr. Susanna Louhimies von der Europäischen Kommission in Brüssel in ihrem Vortrag hervorhob. Trotz guter Erfolge bei Hunden, Katzen, Kaninchen etc. wurden aber Ratten und Mäuse bisher vernachlässigt. 2019 begannen die Verhandlungen mit der Universitätsleitung; Kriterien für die Adoptionsfähigkeit (Alter, Gesundheitsstatus, etc.) mussten erarbeitet, und entsprechende externe Abgabestellen gefunden werden. Diese Stellen behalten die Tiere auch dann, wenn keine neuen Besitzer gefunden werden können. Auch hier werden nur gesunde, kastrierte und nicht genetisch veränderte Tiere abgegeben, sowie entsprechende Verträge geschlossen und Kontrollen vereinbart. Dem neuen Besitzer muss zudem bekannt sein, aus welcher Art Versuche die Tiere kommen, welchen Belastungen sie ausgesetzt waren und wie das bisherige „Handling“ stattfand, um Reaktionen des späteren Heimtieres besser einschätzen zu können.

Eines der Hauptprobleme ist das Immunsystem der Tiere. Dieses konnte unter Laborbedingungen keinen der normalen Krankheitserreger „kennenlernen“.  So sind Krebs und Infektionskrankheiten häufige Begleiterscheinungen des Rehoming. Die Tiere müssen zudem auf ihr Leben außerhalb des Labors vorbereitet werden. Die Tierpfleger sind hochmotiviert, die Tiere entsprechend zu trainieren, und nehmen die zusätzliche Arbeit gerne auf sich. Auch viele Forscher gehen mit den Tieren anders um, in dem Wissen, dass diese ein Leben nach dem Labor vor sich haben, stellte Prof. Andrew Fenton von der Dalhousie University in Halifax klar. Allen Rehoming-Projekten gemein ist aber, dass nicht alle Forscher die (Mit-) Verantwortung für ihre Tiere über das Versuchsvorhaben hinaus übernehmen wollen. Sie halten dies für eine Aufgabe der Tierschutzbeauftragten bzw. der Tierschutzorganisationen. 

Bei der Vorbereitung auf das neue Leben mit seinen Herausforderungen, aber auch im Laboralltag wird das PRT (positive reinforcement training, positive Verstärkung) angewandt, das Stress bei Mensch und Tier vermindert. Methoden des PRT wurden u.a. von Dr. Kathryn Bayne von AAALAC International vorgestellt. Das Klickertraining ist bei Hunden und Schweinen gut etabliert, wird aber bei Labornagern selten angewandt. Die Tiere reagieren sehr gut auf das Training und lernen schnell. Über das Targettraining wird dem Tier beigebracht, ein bestimmtes Objekt mit der Nase zu touchieren. Auf diese Weise können die Tiere stressfrei und ohne Händling von einem Ort zum anderen gebracht werden. Der Erfolg dieser Trainingsmethoden hängt von vielen individuellen Faktoren ab, wie der Aufmerksamkeitsspanne des Tieres/der Tagesform, Spezies- und Zuchtlinienunterschiede und dem Vertrauen des Tieres in den Menschen.

Culture of Care und Corporate Social Responsibility
Das Training durch positive Verstärkung wie das Rehoming sind Bestandteil der “Culture of Care“ (CoC). Stress ist nicht tierschutzgerecht und gilt als „confounding factor“: Er reduziert die Reproduzierbarkeit. Hierzu gehört auch und vor allem stressfreies Händling der Tiere. Über die praktische Umsetzung referierte Maria Kiersgaard von Novo Nordisk, Kopenhagen. Das „tail handling“ also das Hochheben am Schwanz, wird mittlerweile abgelehnt. Als Alternative werden „Cup-handling“ bzw. „Tunnel-handling. Die Anfänge waren frustrierend: Es dauerte länger, das unzureichend geschulte Personal jagte die Mäuse mit dem Tunnel, und am Stresspegel der Tiere änderte sich nichts. Es brauchte eine intensive und persönliche Schulung mit intensivem Austausch, um den erwünschten Erfolg zu erzielen. Die Tiere waren ruhiger, das Personal zufriedener. Dr. Mark Prescott vom NC3Rs ergänzte, dass die Änderung verschiedener Laborroutinen, wie z.B. die Säuberung der Käfige, positive Effekte auf die Aggressivität männlicher Mäuse haben kann.

Ein weiteres Element der CSR/CoC, präsentiert von Dr. Sabine Juliane Bischoff Tierschutzbeauftragte der Universitätsklinik Jena, ist das Lernen aus Fehlern. Schäden, Beinahe-Schäden, unerwünschte oder unerwartete negative Ereignisse, die im Rahmen von Tierversuchen auftreten, werden auf der weltweit ersten Plattform www.CIRS-LAS.de veröffentlicht, analysiert und diskutiert. Das Erarbeiten einer transparenten Fehlerkultur soll helfen, diese Ereignisse künftig zu verhindern, da Zwischenfälle jeder Art nirgendwo publiziert werden. Zudem verhindert es das wiederholte Misslingen von Tierexperimenten aufgrund der immer gleichen Fehler.

Die CoC/CSR endet nicht beim Tier, sondern schließt den Menschen mit ein. Ein Phänomen, das in den letzten Jahren vermehrt in den Blick gerückt ist, ist die „Compassion Fatigue“, wie Judy Murray von Charles River Laboratories darlegte. Betroffen sind insbesondere Tierpfleger, die sich in besonderem Masse um ihre Tiere kümmern und Anteil nehmen. Der allzuoft unvermeidliche Tod/das Leiden der Tiere erzeugt Trauergefühle, die aber nicht artikuliert werden können. Sie nehmen sich nicht mehr die Zeit für sich selbst ausreichend zu sorgen, vernachlässigen Sozialkontakte und stumpfen im Lauf der Zeit auch im Umgang mit den Tieren zunehmend ab, was neben der psychologischen auch zu einer Tierschutzproblematik führen kann. In dem Programm geht es darum, Versuchsleiter und – durchführende für diese Problematik zu sensibilisieren und Stellen zu schaffen, an denen die Betroffenen Gehör finden und Unterstützung bekommen. Hilfreich bei der Verarbeitung ist beispielsweise eine Möglichkeit des „Gedenkens“ an die Tiere, die Wahl, die Tiere nach Versuchsende selbst zu töten oder dies jemand anders überlassen zu dürfen, oder auch Rehoming Programme.

Philosophische und ethische Fragen
Prof. Ingrid van Visseren von der Radboud Universität warf grundsätzliche Fragen zu Veränderungen in einem komplexen Gesellschaftssystem auf, in dem Tierversuche nur ein kleiner Teil sind. Wie kann man den Übergang zu einer versuchstierfreien Welt schaffen und dabei die anderen Systeme stabil und nachhaltig bewahren? Die Transformation erfordert technologischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Wandel. Sie kann nur auf der Basis eines Wertewandels erfolgen, und muss alle Sektoren im Blick haben, da diese sich direkt oder indirekt gegenseitig beeinflussen. Bei der Beendigung des Tierversuches muss die Frage gestellt werden, ob eine (abermalige) technologische Lösung, nämlich in vitro Methoden und Ähnliches ausreichen, um die Gesundheit zu gewährleisten oder ob nicht in viel größerer Fokus auf eine gesunde Umwelt und Prävention gelegt werden sollte. Bei solchen Transformationen kommen wir um tiefgreifende Paradigmenwechsel nicht herum. Als letztes Ziel steht das Ende des Speziesismus, was tiefgreifende Änderungen auch und gerade im Bereich der Landwirtschaft nach sich ziehen wird.

Dr. Anna Deplazes von der ETH Zürich griff das Thema ebenfalls auf, indem sie kritisch anmerkte, dass das 3R-Prinzip im Grunde ebenfalls ein utilitaristisches ist. Bei Tierversuchen wird eine Schaden-Nutzenanalyse gemacht, um die Verhältnismäßigkeit eines Versuches zu beurteilen. Die 3R reduzieren die Kostenseite (den Schaden für das Tier), erhöht aber nicht den Nutzen/Sinn des Versuches. In ihrem Vortrag warf sie beispielhaft viele kontroverse Fragen auf: Bei der Verwendung und Optimierung humaner Materialien wie bspw. ESC muss auch über eine mögliche Nutzung dieser Zellen in der Entwicklung biologischer Waffen nachgedacht werden. Minibrains, die immer weiter verfeinert werden, könnten selbständig eine Art Empfindungsfähigkeit/Bewusstsein entwickeln. Wie erkenne ich dies bei einem Organoid, dass keine Möglichkeit hat, sich zu äußern? Bei der Entnahme von Zellen eines menschlichen Spenders stellt sich die Frage, wem die Zellen gehören. Dürfen sie über den ursprünglichen Verwendungszweck hinaus weitervermehrt und -verwendet werden – und wer entscheidet darüber? Welche Art der Zustimmung seitens des Spenders ist ausreichend – und wer stellt sicher, dass die Zellen dann vernichtet werden? Was sind „höhere Tierarten“ – und warum? Dies geht weit über eine rein wissenschaftliche Debatte hinaus. Die Frage, welche Risiken wir als Gesellschaft im Hinblick auf welchen Nutzen zu tragen bereit sind, ist nicht nur im Bereich der 3R überfällig. Mit den zunehmenden Fähigkeiten der in vitro-Methoden werden sie sich aber bald stellen.

Der nächste Weltkongress findet im August 2023 in Kanada statt.