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Donnerstag, 26 November 2020 17:35

Replacement des Jahres 2020: Tierversuche zur Untersuchung des Krebsrisikos (Karzinogenität) Empfehlung

An dieser Stelle informieren wir über Karzinogenitätstests - Tests zur Feststellung, ob eine Substanz Krebs auslösen kann oder nicht. Das Wissen darüber ist notwendig, um Stoffe richtig zu klassifizieren, ihre Nutzung mit ihnen zu verbieten, sie einzuschränken oder zumindest Sicherheits-/Warnhinweise beim Umgang mit ihnen an die Hand zu geben. Beispiel: die Verwendung des Pestizids Linuron ist seit 2018 in der EU unter anderem wegen seiner karzinogenen Eigenschaften verboten.1,2

Bislang werden derartige Tests an Nagetieren durchgeführt. Seit einiger Zeit sind Regulationsbehörden, Industrie und Wissenschaft darin übereingekommen, dass die Tests am Tier nicht mehr zwingend notwendig sind – in erster Linie deshalb, weil zum Zeitpunkt des Beginns dieser Tests bereits ausreichend Informationen aus Tierversuchen über eine mögliche Krebsgefahr beim Menschen vorliegen. Jedoch ist die entsprechende Vorschrift noch immer nicht gestrichen worden und diese für das Tier zum großen Teil hochbelastenden Tests werden weiter durchgeführt.

Angriffspunkt von chemischen Karzinogenen: die DNA.
Grafik: Darwin Laganzon, Pixabay


Einleitung, Problemstellung

Krebs ist eine der häufigsten ernsthaften Erkrankungen weltweit: Als Ursache für einen vorzeitigen Tod vor Vollendung des 65. Lebensjahrs steht Krebs mit fast 20% aller Fälle in Europa an zweiter Stelle.3 Allein in Deutschland erlagen 2018 über 230.000 Menschen einem Krebsleiden4. Jedoch könnten rund 37 Prozent aller Neuerkrankungen vermeidbar oder zumindest beeinflussbar sein, sie betreffen Ursachen wie Tabakkonsum, Übergewicht, Bewegungsmangel und ausgiebiges Sonnenbaden.5 Tumore können jedoch auch genetisch bedingt sein oder durch ionisierende Strahlen, Viren oder chemische Substanzen (Stoffe oder Gemische) entstehen. Angriffspunkt ist die genetische Grundausstattung (Genom) der Zelle, die Desoxyribonukleinsäure (DNA). Auch der eigene Körper kann die DNA durch Basenverlust, Basenmodifikation oder DNA-Einzel- oder Doppelstrangbruch durch sogenannte reaktive Sauerstoffmoleküle, bspw. aus der Atmungskette, schädigen.
Pro Stunde kommt es in der Zelle allein zu 5.000 sogenannten DNA-Strangbrüchen, vermuten Forscher.6 Allerdings repariert die Zelle im Normalfall derartige Fehler selbst, es sei denn, die eigenen Reparatursysteme funktionieren immer schlechter. Dies kann durch Vergiftungen, eine ausgiebige Exposition mit UV- oder ionisierenden Strahlen oder durch ein zunehmendes Alter verursacht werden. Möglicherweise sind die Reparatursysteme von einer Mutation betroffen.

In einem bestimmten Umfang könnten auch Umweltchemikalien eine Rolle spielen. Deshalb muss der Schutz der Gesundheit aller Personengruppen gewährleistet sein, die bei Produktion, Handel oder Umgang mit Chemikalien wie z. B. Pflanzenschutzmitteln oder deren Rückständen in Kontakt kommen können. Deshalb müssen diese für eine Zulassung auch auf ein mögliches krebsauslösendes Potenzial (Karzinogenität) hin getestet werden.7


Darstellung der DNA-Helix mit DNA-Strangbruch
Grafik: PhonlamaiPhoto, iStockphoto

 


Genotoxizität, Mutagenität, Karzinogenität

Genotoxisch sind Substanzen, die eine schädigende Wirkung auf das Genom haben. Sie können zu Mutationen führen oder die Fehlerrate bei der Verdopplung der DNA bei jeder Zellteilung erhöhen. Die Genotoxizität ist somit nicht notwendigerweise mit einer Mutagenität verbunden.8 Davon abzugrenzen ist die Mutagenität: Mutagene sind Stoffe oder Strahlung, die eine Veränderung in der DNA hervorrufen, welche zu einer Erbgutveränderung führt. Eine Mutation bedeutet jedoch (noch) keine Tumorbildung. Ein Karzinogen (auch Kanzerogen) ist eine Substanz, die eine Zelle in eine Tumorzelle umwandeln kann, also tumorerzeugendes Potenzial hat.9 Dies erfolgt durch Veränderung der DNA und dadurch bedingte Initiation der Tumorentwicklung. Aufgrund ihrer toxischen Wirkungen unterscheidet man zwischen genotoxischen und nicht-genotoxischen Kanzerogenen. Genotoxische Kanzerogene reagieren direkt mit der DNA der Zelle, wodurch es am Ende zu einer Mutation kommt. Nicht-genotoxische Substanzen wirken über sekundäre Mechanismen, die keine direkte Interaktion mit der DNA auslösen. Sie lösen keine kurzfristigen Mutationen in eukaryotischen und prokaryotischen Mutationstests aus und induzieren auch keine direkten DNA-Schäden im Zielorgan.10 Sie können demnach über Genotoxizitätstests nicht erkannt werden. Nicht-genotoxische Karzinogene umfassen auch epigenetische Veränderungen. Sie reagieren z. B. auch mit Proteinen oder Immunzellen, wie es bei Asbest der Fall ist.6, 10



Ein Tumor bedeutet zunächst einmal eine Wucherung oder Geschwulst durch vermehrte Zellteilung von Gewebe. Nur bösartige Tumoren bezeichnet man als Krebs. Ob die Wucherung gutartig (benigne), halbgutartig (semimaligne) oder bösartig (maligne) ist, hängt von ihrem Wachstumsverhalten ab.11 Mit Ausnahme von Blutkrebs wachsen derartige Tumore aggressiv in das umliegende Gewebe ein und zerstören es.12 Sie können außerdem Tochtergeschwülste in entfernteren Regionen des Körpers bilden, die Metastasen. Schrittweise Entstehung von Tumoren nach langer Latenzzeit Kanzerogene Effekte treten meist lange Zeit nach der relevanten Exposition auf. Die Krebsentstehung erfolgt in den drei Etappen Tumorinitiation, Tumorpromotion und Tumorprogression.13 Der erste Schritt zur Entartung von Zellen wird als Initiation bezeichnet. Einzelne, teilungsfähige Zellen (Stammzellen) mutieren. Es kommt zu einer irreversiblen, vererbbaren Veränderung, die bei der Zellteilung an die Tochterzellen weitergegeben wird. Der DNA-Schaden wird von Zellgeneration zu Zellgeneration weitergereicht.6
Bei der Promotion wird der Prozess der Tumorentwicklung beschleunigt. Dabei wird die Selektion der tumorinitiierten Zellen gefördert. Es kommt zu sogenannten Präneoplasien – gutartigen Tumoren. Verletzungen, Entzündungsprozesse oder ein hormoneller Stimulus können diese Entwicklung fördern.6

Der letzte Schritt, die Progression, bedeutet die Umwandlung von zunächst gutartigen in bösartige Tumore. Dabei kommt es in den Zellen zu genetischen und phänotypischen Veränderungen. Fatal ist die Inaktivierung von solchen Genen, die für Reparaturenzyme kodieren. Mutationen häufen sich in den Zellen an. Es entstehen zunehmend aggressive Zellen, die unbegrenzt teilungsfähig sind. Der Stoffwechsel wird zugunsten der Tumorernährung umprogrammiert, es bilden sich Blutgefäße im Tumor, die ihn mit Sauerstoff und Nährstoffen versorgen. Die Zellen werden unempfindlich gegen Angriffe des Immunsystems, der Mechanismus des programmierten Zelltodes (Apoptose) funktioniert nicht mehr. Es bilden sich Metastasen, die in andere Gewebe einwandern und dort ihrerseits ihr zerstörerisches Werk entfalten.6

Gesetzliche Vorschriften

Regulatorische Anforderungen an die Prüfung der Kanzerogenität von Chemikalien variieren in Abhängigkeit von den Eigenschaften und den Produktionsmengen der Chemikalie. An erster Stelle stehen In-vitro-Genotoxizitätstests. Wenn diese positiv ausfallen, wird das Ergebnis in vivo überprüft und mit Tests an Säugetieren ergänzt.10 Genotoxizitätstest werden durchgeführt, um zu untersuchen, ob durch die Testsubstanz Gen-, Chromosomen oder Genommutationen ausgelöst werden.

Genotoxizitätstest nach OECD

 


Genmutationstests dienen der Feststellung, ob eine Veränderung an einem einzelnen Gen, z. B. ein Basenaustausch, Basenwegfall oder eine Einfügung einer einzelnen Base stattgefunden hat. Genommutationstests untersuchen Änderungen in der Gesamtheit aller Gene, z. B. die Anzahländerung aller Gene im Chromosomensatz.

Tierversuchsfrei bedeutet nicht tierleidfrei

Zwölf verschiedene Tests können zur Untersuchung von DNA-Basenänderungen oder strukturellen/numerischen Chromosomenänderungen genutzt werden. Kein Verfahren kommt dabei ohne Tiere aus, auch wenn fünf Tests in vitro durchgeführt werden. Der Grund ist, dass mit Hilfe von Enzymen aus Rattenlebern (sogenannter S9-Mix) der Stoffwechsel in den Zellkulturen erst angekurbelt wird. In der Regel werden dafür Ratten mit der Substanz Arochlor 1254, die früher z. B. als Flammschutzmittel Verwendung fand, vergiftet. Danach werden die Tiere getötet und ihre Lebern zur Isolation eines Enzyms entnommen. Aus diesem Grund sind diese in vitro-Tests keine tierleidfreie Alternative.

Wenn die pro Jahr in Europa produzierte Chemikalienmenge 1000 Tonnen oder mehr beträgt, kann nach Anhang X der REACH-Verordnung im Verlauf der Chemikalienregistrierung der Registrant oder die europäische Chemikalienagentur (ECHA) eine Prüfung vorschlagen bzw. einfordern. Die ECHA fordert dies, wenn die produzierte Chemikalie weit verbreitet wird oder Hinweise auf häufige oder lang andauernde Expositionen von Menschen vorliegen. Ein weiterer Grund ist, wenn die Chemikalie bereits als keimzellmutagen der Kategorie 2 eingestuft wurde oder Langzeit-Tierstudien ergeben haben, dass der Stoff eine Vergrößerung
eines Organs/Gewebes durch abnorme Zellvermehrung(14) bzw. eine mögliche oder gesicherte Vorstufe einer Krebserkrankung (Präneoplasie) hervorrufen kann. Wenn die Chemikalie dagegen bereits als keimzellmutagen der Kategorien 1A oder 1B eingestuft wurde, braucht keine Karzinogenitätsprüfung durchgeführt werden.

Bei der Arzneimittelentwicklung ist bislang eine Studie an Nagetieren durchzuführen, wenn es Hinweise aus vorhergehenden tierexperimentellen Giftigkeitsstudien und Humandaten gibt, dass die Substanz ein karzinogenes Potenzial haben kann. Die Tests wurden vor dem Hintergrund eingeführt, dass das Arzneimittel regelmäßig über wenigstens sechs Monate vom Patienten eingenommen wird.15


Rechtsgrundlagen

Die rechtlichen Grundlagen für präklinische Tests an Tieren zur Chemikalienregulierung sind die REACH-Verordnung 1907/2006 sowie die Verordnung 1272/2008 zur Einstufung, Kennzeichnung und Verpackung von Stoffen und Gemischen. Die Grundlagen für die Testdurchführungen bilden die OECD Testrichtlinie 451 (Carcinogenicity Studies)16 und 453 (Combined Chronic Toxicity-Carcinogenicity Studies).17 Auch bei der Arzneimittelentwicklung sind Tierversuche vorgesehen: Grundlagen sind die Richtlinien des International Council for Harmonisation of Technical Requirements for Pharmaceuticals for Human Use (ICH) S1A, S1B, S1C(R2) sowie S2 (R1).15, 18


Tierversuche zur Untersuchung der Karzinogenität

Karzinogenitätsstudien finden im Anschluss an alle anderen gesetzlich vorgeschriebenen Tierversuche statt. Ist der Prüfstoff ein Arzneimittel, so befindet sich der Prüfprozess dabei bereits am Ende der klinischen Phase 2.19 

Abb. 1: Schema der Stufenstrategie von Toxizitätsprüfungen.
In Anlehnung nach Aktories et al. (2009).13

Die Tierversuche dienen dem Nachweis von nicht-genotoxischen Karzinogenen (Erläuterung siehe Kasten Genotoxizität, Mutagenität, Karzinogenität).10 Die bevorzugte Versuchstierspezies ist die Ratte, jedoch kann auch eine andere Nagetierart, z. B. die Maus, verwendet werden. Der Grund für die Verwendung dieser beiden Spezies ist ihre kurze Lebensspanne und ihre Anfälligkeit für Tumore.16 Wenn sie zwei Jahre alt geworden sind, sind sie schon relativ alt, die Wahrscheinlichkeit steigt, dass die Tiere Krebs entwickeln. Deshalb laufen Karzinogenitätsstudien auch zwei Jahre. Wie bei anderen Säugetieren und dem Menschen auch altert dann das Immunsystem. Ein zusätzlicher Grund ist, dass die Tiere als Hauptspezies auch in anderen toxikologischen und pharmakologischen Studien verwendet werden und deshalb viele Informationen über die Physiologie und Pathologie vorliegen.16

 

Albinoratte im Labor
Foto: Fotografixx, iStockphoto

Mäuse in reizarmen Makrolonkäfigen
Foto: UnoL, iStockphoto

Pro Test mindestens 500 Tiere und mehr

In den Karzinogenitätsstudien werden adulte Tiere eines gewöhnlichen Laborzuchtstammes beiderlei Geschlechts eingesetzt. Es gibt mindestens drei Dosisgruppen und eine Kontrollgruppe. Die Dosen richten sich nach den Ergebnissen der vorhergehenden Langzeit- oder aus Dosisfindungsstudien. In jeder Dosisgruppe sollen je 50 Tiere verwendet werden, d.h. es sind insgesamt mindestens 400-480 Tiere. Jedoch können zur Erhöhung der statistischen Aussagekraft gerade in den Gruppen der niedrigen Dosisgruppe mehr Tiere eingesetzt werden, und auch dann, wenn durch Todesfälle oder Entnahmen zur Nekropsie die Gruppengrößen nicht mehr vergleichbar sind. Es können auch noch zusätzlich sogenannte Sentinel-Tiere dazu kommen (in der Regel 5 Tiere pro Geschlecht). Sentinel-Tiere sind solche, die dem Zweck dienen, eventuell latent vorhandene Krankheitserreger in den eigentlichen Versuchstieren nachzuweisen.20 So soll ausgeschlossen werden, dass ein Krankheitsphänomen auf eine andere Ursache als die Testsubstanz zurückgeführt werden kann.

Tägliche Vergiftung 24 Monate lang

Die Ratten und/oder Mäuse müssen die Testsubstanz regelmäßig über einen Zeitraum von zwei Jahren schlucken, bekommen sie auf die Haut aufgetragen oder müssen sie einatmen, je nachdem, wie der Mensch mit dem Chemikalienprodukt später voraussichtlich in Berührung kommt (Exposition). Die häufigste Testroute ist jedoch oral (über den Mund). Die Gabe erfolgt sieben Tage die Woche täglich, bei oral zu verabreichenden Testsubstanzen über das Futter, Trinkwasser oder eine Schlundsonde.

 

Einer Ratte wird die Substanz zwangsweise über eine Schlundsonde
eingegeben. Foto: Peta2

 
10 der Tiere pro Geschlecht und Dosisgruppe werden ggfs. schon nach einem Jahr getötet und auf neoplastische Veränderungen und mechanistische Informationen hin untersucht, wenn keine Daten aus vorherigen Langzeitstudien vorliegen. In diesem Fall müssen die Dosisgruppen entsprechend größer sein. Der Großteil wird jedoch nach 24 Monaten getötet, eine Nekropsie durchgeführt und überprüft, ob sich bei den Tieren gutartige oder bösartige Tumore entwickelt haben.16

 

Ratte bereit für eine Nekropsie
Foto: unoL, iStockphoto


Ziel der Untersuchungen ist es, festzustellen, ob die Testsubstanz bei den Tieren zu einem erhöhten Auftreten von Neoplasien, einem erhöhten Anteil bösartiger Tumor-Neubildungen oder zu einer Verkürzung der Zeit bis zum Auftreten von derartigen Neubildungen im Vergleich zu den Kontrollgruppen geführt hat. Außerdem soll untersucht werden, in welchen Organen die Krebsentwicklung erfolgt und wann sie auftreten. Des Weiteren wird die Frage geklärt, ab welcher Dosis sich Neoplasien bilden und vor auch, wie hoch die Dosis sein kann, bei der es zu keiner Tumorentwicklung kommt (so genanntes no-observed-adverse-effect level, NOAEL).

Testhäufigkeit in Deutschland und Europa

Die Karzinogenitätsprüfungen haben in Deutschland und Europa in den letzten Jahren abgenommen, sind aber nicht beendet worden.


Während 2015 in Deutschland noch über 5.000 Versuchstiere in Karzinogenitätsstudien leiden mussten, hat ihre Zahl 2018 auf unter 1.000 Tiere abgenommen. Die Tests wurden zuletzt ausschließlich für die Herstellung von Arzneimitteln und Pflanzenschutzmitteln durchgeführt. Das sind die Produkte, bei denen der Endverbraucher den Stoff regelmäßig und langfristig aufnimmt.

EU-weit hat sich die Anzahl verwendeter Versuchstiere 2017 gegenüber 2015 auf 12.493 halbiert. Die europäischen Länder, die noch immer Karzinogenitätstests mit Versuchstieren durchführen, sind Deutschland, Frankreich, die Niederlande und das Vereinigte Königreich.

Kritik am Tierversuch

Es gibt zahlreiche Kritik an den Tierversuchen, angefangen bei der Reproduzierbarkeit der Ergebnisse, über die Relevanz der Tierstudien bis hin zu ethischen Überlegungen, dass derartige schwerwiegende Tests und zweijährige, andauernde Behandlungen hoch belastend und in Hinblick auf die unzuverlässigen Ergebnisse und die Überflüssigkeit nicht gerechtfertigt sind.

Belastung
Nach europäischer Tierversuchsrichtlinie Anhang VIII11 kann der Belastungsgrad von Karzinogenitätsstudien von mittel bis schwer reichen, vor allem bei Induktion von Tumoren oder spontanen Tumoren, bei denen zu erwarten ist, dass sie eine fortschreitende tödliche Krankheit mit lang andauerndem mittelstarkem Schmerz, mittelschweren Ängsten oder Leiden verursachen. Dazu zählen beispielsweise Auszehrung (Kachexie) verursachende Tumore, invasive Knochentumore, metastasierende Tumore und Tumore, die bis zur Geschwürbildung (Ulzeration) belassen werden.

Tumorforschung ist also oft für die Tiere hochbelastend. Aus diesem Grund müssen bei der Projektplanung zwingend Abbruchkriterien berücksichtigt werden, bspw. eine bestimmte Tumorgröße, die für das Tier nicht mehr zumutbar ist. Wie an einem Fallbeispiel dargelegt21, betrug die Zeit in einem ersten Experiment 75 Tage, bis der Primärtumor diese Größe erreicht hatte. In dieser Zeit war er metastasiert, und diese Metastasen wurden erforscht. In der Replikation wuchs der Tumor plötzlich sehr viel schneller und hatte nach 45 Tagen seine kritische Größe erreicht – nicht genug Zeit, um ausreichend Metastasen zu bilden und das erste Experiment nachzuvollziehen. Hier handelt es sich also um eine biologische Variation, die auch vom sorgfältigsten Wissenschaftler nicht beeinflussbar ist.

Reproduzierbarkeit
Auf der Verlässlichkeit publizierter Daten ruht der gesamte wissenschaftliche und medizinische Fortschritt. Die pharmazeutische Industrie verwendet die Erkenntnisse, um Kandidaten für mögliche Medikamente zu identifizieren und weiterzuentwickeln. Wenn, wie zum Beispiel im folgenden Fall, nur 21% der veröffentlichten Literatur komplett nachvollzogen werden können, endet dies in der Regel mit dem Abbruch des Projektes, da weitere Investitionen nicht begründet werden können.22 Dies behindert die Medikamentenentwicklung, und bedeutet unnötigen Tierverbrauch. In der Krebsforschung ist die Reproduzierbarkeit besonders schlecht, zudem werden dort hochbelastende Tierversuche durchgeführt.

Die Reproduzierbarkeitskrise in der Krebsforschung – Gründe und Konsequenzen
Bayer Health Care berichtete 2011 darüber, dass überraschend häufig Schlüsselergebnisse publizierter wissenschaftlicher Artikel, 70% aus der Krebsforschung, in ihrem Haus nicht nachvollzogen werden konnten. Dieser Eindruck wurde ein Jahr später durch eine systematische Studie der Firma Amgen bestätigt, die von 53 veröffentlichten Studien nur knapp 7% reproduzieren konnte – in 47 Fällen gelang dies NICHT. Was bedeutet das für Wissenschaft, Medizin und, nicht zuletzt, die Versuchstiere?

Das RP: CB Projekt
Das Reproducibility Project: Cancer Biology wurde in Reaktion auf diese erschreckenden Befunde 2013 gegründet mit dem Ziel, insgesamt 50 Krebsstudien mit größtmöglicher Sorgfalt nachzustellen und auf ihre Nachvollziehbarkeit zu überprüfen. Es gilt, die Ursachen mangelnder Reproduzierbarkeit zu erforschen und, wenn möglich, zu eliminieren. Die Autoren der Originalveröffentlichungen wurden gebeten, die ursprünglichen Reagenzien zur Verfügung zu stellen und Details ihrer Methoden preiszugeben. Die Ergebnisse der ersten 5 Studien wurden 2017 veröffentlicht24 und ergaben ein durchwachsenes Bild. Von fünf Studien konnten nur zwei die Ergebnisse der Vorstudien nachvollziehen. Eine war nicht reproduzierbar, und zwei Wiederholungsversuche wurden als „nicht interpretierbar“ eingestuft.25 Andere Forscher26 konnten vier von fünf Studien nicht reproduzieren, was den Ergebnissen der Amgen-Studie schon sehr nahekommt.27

Die Gründe mangelnder Nachvollziehbarkeit Diese Gründe kann man in allgemeine (die für die gesamte Forschung zutreffen) und solche, die spezifisch für die Tumorforschung sind, einteilen. Wissenschaftler der University of Texas führten dazu eine ausführliche Umfrage durch.28 Danach gaben fast 55% aller Forscher an, dass sie schon einmal Ergebnisse einer wissenschaftlichen Arbeit nicht hatten nachvollziehen können. Die Mehrzahl (fast 80%) suchten daraufhin Hilfe bei den Originalautoren. Von diesen antworteten knapp 40% auf kooperative Weise, aber die Mehrheit der Angefragten reagierte unkooperativ oder überhaupt nicht. Dies ist insofern skandalös, als der Wissenschaftler für seine Arbeit und Ergebnisse natürlich verantwortlich ist und dafür zu sorgen hat, dass nachfolgende Studien darauf aufbauen können.

Interne Abhängigkeiten sind ein weiteres Problem: In der Arbeitsgruppe eines Professors werden sich Mitarbeiter eventuell hüten, die Ergebnisse ihres Vorgesetzten in Frage zu stellen, auch wenn ihre eigenen Daten diese Hypothesen nicht untermauern. Der erhebliche Publikationsdruck tut ein Übriges, sodass Daten veröffentlicht werden, auch wenn der Autor selber nicht wirklich von der Validität seiner Daten überzeugt ist. Auf diese Weise können z. B. durch Gruppendruck regelrechte „wissenschaftliche Mythen“ entstehen. Nun muss man der Forschung zugutehalten, dass kein Paper, das komplexe Sachverhalte behandelt und mehrere Ergebnisse präsentiert, zu 100% replizierbar ist. Dafür ist die Biologie (der Zellen bzw. der Versuchstiere) zu komplex und zu störanfällig. Eine solche Rate wie sie sich hier abzeichnet ist allerdings völlig inakzeptabel. Wie oben dargelegt, liegt dies speziell in der Krebsforschung nicht nur an mangelnder Durchführung und dem Publikationszwang, sondern könnte biologische Gründe haben, die eventuell nicht kontrollierbar sind. Sollte dies der Fall sein, braucht die Krebsforschung völlig neue Methodologien.

Relevanz
Evolution findet auch im Labor statt.(26) Tiere, Zellen und Tumorzellen verändern sich fortlaufend in ihrer genetischen Ausstattung, die Zellen mutieren. Da die Mutationen sich gegenseitig beeinflussen und aufeinander aufbauen können, ist es möglich, dass sich ein Tumor in einem Tier bzw. zu einem bestimmten Zeitpunkt völlig anders entwickelt als in einem anderen Tier oder zu einem anderen Zeitpunkt. Demnach wäre also eine schlechte Reproduzierbarkeit in der Krebsforschung in gewisser Weise „intrinsisch“ und auch nicht beeinflussbar. Im Tierversuch werden den Tieren z. B. Krebszellen injiziert, die (ursprünglich) alle genetisch identisch sind. Je länger der Tumor wächst, desto weiter wird er sich in seiner genetischen Ausstattung und seinen Eigenschaften von den Tumoren in den anderen Tieren entfernen.

Dies könnte eine mögliche Erklärung dafür sein, dass in den oben erwähnten neueren Studien des RP: CB die drei Zellkulturstudien, aber nicht der Tierversuch reproduzierbar waren; die Zellkulturversuche dauerten Minuten bis Stunden; der Tierversuch in diesem Fall zwei Monate. Die Relevanz derartiger Ergebnisse für die menschliche Situation lässt sich zumindest in Frage stellen.

Alternativen zu Tiertests auf Karzinogenität

Gibt es eine andere Möglichkeit, Karzinogenität festzustellen, ohne Tierversuche durchführen zu müssen?

Lange Zeit scheiterte die in vitro-Testung bereits bekannter Kanzerogene daran, dass diese Substanzen im Organismus einen Prozess der metabolischen Aktivierung durchlaufen, was die frühen in vitro-Tests nicht nachvollziehen konnten. Ein früher Durchbruch bereits in den späten 1960er Jahren war der AMES-Test, mit dem erstmals eine verlässliche Korrelation zwischen Mutagenität in vitro und Kanzerogenität in vivo hergestellt werden konnte.28 Diesen Bakterienkulturen werden jedoch Enzyme aus der Rattenleber beigefügt, um den Fremdstoffmetabolismus anzukurbeln.

Von 2006 bis 2012 hatte die EU das Projekt CarcinoGENOMICS im 6. Rahmenwerkprogramm mit mehr als 10 Millionen Euro finanziert. Ziel war es, mit einer Reihe von Mechanismus-basierten in vitro-Tests als Alternative zu Tests auf Genotoxizität und Karzinogenität an Nagetieren das karzinogene Potenzial von Chemikalien bewertet zu können. Mit den in vitro-Modellen sollten vor allem die Reaktionen der Organe Leber, Lunge und Niere simuliert werden. Eine Rolle spielten die sogenannten „omics“-Technologien. In der Toxikologie werden derartige ‚omics-Methodologien‘ z. B. verwendet, um Substanzen zu bewerten, die Änderungen im gesamten Genom induzieren, die letztlich zu einer Entwicklung schädlicher Wirkungen führen können.29 Zu den omics-Technologien gehören die Genomik, die Proteomik und die Metabolomik. Während es in der Genomik um die Gesamtheit der Gene von Zellen oder Lebewesen geht, untersucht die Proteomik die Gesamtheit der Proteine und die Transkriptomik die aktiven Gene.30 Bei der Prüfung auf stoffinduzierte Wirkungen können die omics-Daten für Stoffklassenvergleiche, Vorhersagen oder Entdeckungen verwendet werden.29 Es sollten phänotypische Marker gefunden werden, Veränderungen in Genexpression und Stoffwechselprofilen sowie Wege identifiziert werden, um Mechanismen der chemischen Kanzerogenese vorherzusagen. Die gewonnenen transkriptomischen und metabolomischen Daten sollten in ein silico-Modell der chemischen Kanzerogenese integriert werden.31

Wissenschaftler*innen der Tierärztlichen Hochschule Hannover haben 2016 drei bereits umfassend evaluierte Testsysteme (den BALB/c 3T3 Zelltransformationsassay, der Bhas 42-Zelltransformationsassay und den Embryoassay des syrischen Hamsters) auf ihre Eignung zum Ersatz von Karzinogenitätsstudien an Nagetieren hin untersucht. Nach Ansicht der Forscher*innen können sie nicht-genotoxische Karzinogene identifizieren und stellen eine nützliche Ergänzung zu den In vitro-Genotoxizitätstestbatterien dar (siehe oben). Zumindest können sie Tierversuche stark reduzieren, weil sie Chemikalien vorauswählen können, die überhaupt einem In vivo-Karzinogenitätstest unterzogen werden müssen.32 Die europäische Validierungsbehörde EURL-ECVAM hat zwei in vitro-Methoden mit Syrischen Hamsterembryo (SHE)-Zellen mit einer Maus-Fibroblasten-Zelllinie namens BALB/c 3T3 validiert. Sie sind in die OECD Testrichtlinien auf der Seite Series on Testing and Assessment unter den Nummern 214 (aus 2015) und 231 (aus 2016) zu finden.33 EURL-EVCAM empfiehlt, die Zelltransformations-Assays, obwohl sie anscheinend relevante Informationen über das Umwandlungspotenzial von Chemikalien liefern können, nicht als eigenständige Methoden zu verwenden, sondern immer in Kombination mit anderen ergänzenden Informationsquellen im Rahmen eines Beweiskraftverfahrens (Weight of Evidence-Ansatzes) oder einer integrierten Teststrategie einzusetzen.34

 

Die Integration von Daten, neuen Technologieanwendungen und Ansätzen in einem abgestuften Testsystem soll eine bessere Sicherheitsbewertung von Arzneimitteln und Chemikalien ermöglichen.
Grafik: Corvi et al. 2017. Toxicology In Vitro. (CC BY-SA 4.0)


Es gibt zudem Entwicklungen, so z. B. eine in vitro-Methode, mit der Karzinogene in menschlichen Zellkulturen identifiziert werden können. Es handelt sich um eine Kultur mit lymphoblastoiden Zellen. Lymphoblastoide Zelllinien sind genetisch stabil und dienen als Ersatz für isolierte oder kryokonservierte periphere Lymphozyten aus dem Blut.35 In einer fünfjährigen Forschungsarbeit haben Wissenschaftler*innen der Swansea-University in Wales unter Prof. Gareth Jenkins und Prof. Shareen Doakin derartige lymphoblastoide Zellen (TK636 und MCL-537) mit acht bekannten Karzinogenen getestet und dabei zuverlässige Ergebnisse erzielt. Untersucht wurden Chromosomenschäden, Zellsignale, Zellmorphologie, Zellzyklus-Dynamik und bioenergetische Störungen. Veränderungen der Zellmorphologie und der Genexpression haben sich als besonders geeignet für die Identifizierung von Umweltkarzinogenen erwiesen.38 Der Ansatz kann sowohl zum Nachweis genotoxischer als auch nicht-genotoxischer Karzinogene verwendet werden. Allerdings können immer noch Fragen darüber aufkommen, ob sie wirklich repräsentativ für komplexe menschliche Organe und Systeme sein können. Deshalb wollen die Wissenschaftler*innen den Test mit Hilfe von 3D-Modellen der menschlichen Leber, Haut und Lunge so anpassen, dass er die menschliche Physiologie besser imitiert.39 Der Test könnte den Autoren zufolge genügend Informationen liefern, um den zweijährigen Nagetier-Kanzerogenitätstest für Nicht-Arzneimittel ersetzen oder den Einsatz von Tieren in diesem Bereich zumindest reduzieren.

Keine Zwei-Jahres-Karzinogenitätsstudie – Daten zur Pharmakologie, Genotoxizität und chronischen Toxizität reichen aus

Es gibt neben ethischen und konsequenten politischen Bedenken gegenüber Tierversuchen auch praktische Bedürfnisse für einen anderen Ansatz als den Karzinogenitätstest am Tier.40 Dadurch zeigten sich die ECHA und diverse Stakeholder in einem Workshopreport 2017 davon überzeugt, dass in vitro-Genotoxizitätstests und der drei- oder sechsmonatige subchronische Toxizitätstest an Ratten genügend Daten zur Bewertung des Karzinogenitätsrisikos von Chemikalien liefern kann. Hierdurch könne auf die zweijährige Studie an Ratten verzichtet werden.41

Amerikas führende pharmazeutische Forschungsunternehmen (PhRMA), die amerikanische Food and Drug Administration (FDA), die Japan Pharmaceutical Manufacturers Association (JPMA) sowie die Europäische Union haben in den letzten Jahren eine Vielzahl an Datensätzen rückblickend analysiert. Sie schlussfolgerten, dass auf der Grundlage von Informationen zur Pharmakologie, Genotoxizität und chronischen Toxizität (die bei der Entwicklung eines neuen Arzneimittels in der Regel am Ende der Phase 2 vorliegen) das Ergebnis einer 2-Jahres-Studie zur Kanzerogenität an Ratten mit hinreichender Sicherheit vorausgesagt werden kann. Eine negative Histopathologie aus einer chronischen Rattenstudie zusammen mit einem negativen Ergebnis der Genotoxizität und einem negativen Nachweis eines hormonellen Mechanismus könne mit 82%iger Genauigkeit ein negatives Ergebnis der 2-Jahres-Studie zur Kanzerogenität dieser Verbindungen bei Ratten vorhersagen. Dies träfe jedoch nur auf etwa 30-40% der Verbindungen zu.19 Eine Bewertung der Karzinogenität, ohne eine 2-Jahres-Kanzerogenitätsstudie an Ratten durchzuführen, könne daher nur für bestimmte Pharmazeutika vorgenommen werden. Dies gelte nicht für biotechnologisch hergestellte Arzneimittel, die dem ICH S6(R1)-Leitfaden folgen.16

Auch die European Medicines Agency (EMA) ist dieser Information zugänglich, ein Verzicht könnte möglich sein: Ein sogenannter „Regulatorischer Hinweis auf Änderungen der Kernrichtlinie ICH S1 zur Prüfung der Karzinogenität von Arzneimitteln in Nagetieren“ (EMA/CHMP/ICH/536328/2013 Rev. 1) befasst sich vorsichtig mit einem möglichen Verzicht auf diese Tierstudien. Eine ICH S1-Expertenarbeitsgruppe (S1 EWG) hat Datensätze ausgewertet und den Schluss gezogen, dass die Kenntnis pharmakologischer Informationen zusammen mit toxikologischen und anderen Daten in bestimmten Fällen ausreichende Informationen liefern kann, um das Ergebnis von zweijährigen Rattenkarzinogenitätsstudien und ihren potenziellen Wert für die Vorhersage des Risikos der menschlichen Karzinogenität eines bestimmten Arzneimittels vorherzusagen.42 Der regulatorische Hinweis wurde am 25. Februar 2016 angenommen.

Auch die OECD kündigt an, dass es in Kürze einen integrierten Ansatz für die Testung und Bewertung von nicht-genotoxischen Karzinogenen (IATA) geben wird.43 Zwar gibt es eine Reihe an in vitro-Genotoxizitätstests, die fehlende Humanrelevanz durch einen dann folgenden in vivo-Test am Nagetier lässt jedoch eine Informationslücke zurück, die die OECD mit einer integrierten Teststrategie schließen will. Jacobs et al. (2020) haben hier einen Entwurf skizziert, der die Komplexität aufzeigt.44 Hilfreich waren unter anderem hier die Adverse Outcome Pathways (AOPs), bereits vorliegende Kenntnisse über Toxizitätsmechanismen auf verschiedenen Stufen der biologischen Organisation, die letztendlich zu der gesundheitlichen Auswirkung (Tumorentwicklung) führen. Die integrierte Teststrategie (IATA) soll auf menschlichen Zellen und Geweben basieren, die die humane in vivo-Situation am besten nachbilden können. Durch die Vielfalt an Zellmechanismen ist eine ganze Reihe von derartigen Tests notwendig. Derzeit sind jedoch die Zellsysteme noch nicht ausreichend entwickelt. Aus diesem Grunde berücksichtigt der erste IATA-Entwurf auch noch andere Säugetierzellsysteme und Testungen über drei oder sieben Tage bzw. 28 und 90 Tage am Tier. Die Teststrategie soll sich jedoch weiterentwickeln und an den Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse und Entwicklungen nach und nach angepasst werden. Der Karzinogenitätstest am Nagetier soll keine Berücksichtigung finden.42

Integrierter Teststrategieentwurf zur Prüfung von nicht-genotoxischen Karzinogenen, hier vereinfacht. Zunächst werden bewährte in vitro- und in vivo-Genotoxizitäts- und Mutagenitätstests durchgeführt und mit zusätzlichen Informationen über Stoffwechsel (gelb) und Exposition (rot) und einer Extrapolationsmethode am Computer (blau) zur ersten Risikoabschätzung genutzt. In Fällen einer dauerhaften Exposition (unten rot) mit dem zu untersuchenden Umweltstoff kommt eine Vielzahl an Einzeltests zum Einsatz (in grünen Kreisen), von denen einige noch entwickelt werden müssen. Die einzelnen Schritte bis zur Tumorbildung entsprechen der Kaskade von Ereignissen, wie sie in der Adverse Outcome Pathway-Konzeption ermittelt worden sind. Die in vitro-Tests werden noch mit weiteren Tests auf epigenetische Veränderungen kombiniert.
Schaubild nach Jacobs et al. Archives of Toxicology (2020) 94: 2899–2923, leicht vereinfacht.

Ausblick

Engagement gibt es z. B. von der European Partnerschip for Alternative Approaches to Animal Testung (EPAA): Hier sind 35 Unternehmen aus den Industriesektoren Tiergesundheit, Chemikalien, Kosmetik, Pflanzenschutz, Duftstoffe, Arzneimittel sowie Seifen und Reinigungsmittel mit fünf Direktoraten der Europäischen Kommission zusammengeschlossen, unter anderem mit der Europäischen Validierungsbehörde ECVAM des Joint Research Centers.41 Die Leitungsgruppe der EPAA setzt sich aus Mitgliedern der Industrie und Kommissionsvertretern zusammen und wird von einer Mirrorgroup beraten, die sich aus Experten aus Wissenschaft, Tierschutz, Vertretern der Bereiche Tierversuche, Innovationsakteuren und weiteren Organisationen zusammensetzt. Mit seinen Aktionsprogrammen konzentriert sich die EPAA auf die Umsetzung von neuen Methoden zum Ersatz von Tierversuchen und will die regulatorische Akzeptanz der Methoden fördern, auch bei der Karzinogenitätstestung.41 Letztendliches Ziel der EPAA auf lange Sicht ist, für die Entscheidungsfindung im Regulierungsbereich über Testmethoden verfügen zu können, die wissenschaftlich robust, schneller und kostengünstiger sind als die derzeit verwendeten Tests mit Tieren.

Auf der Grundlage von Untersuchungsergebnissen und eines Workshops der EPAA bereits in 2013 sollten wissenschaftliche Beweise in einer erweiterten Datenbank gesammelt werden. Ziel war es, die Regulierungsbehörden zu überzeugen, den Verzicht auf die zweijährige Kanzerogenitätsstudie an Ratten zu akzeptieren. An der Universität Wageningen wurden dafür 364 Verbindungen in einer frei zugänglichen Datenbank (TOXRef) dokumentiert.41

Die Studie war interessanterweise Teil eines Regulierungspakets, das gleichermaßen Pharmazeutika, deren Zusatzstoffe und Chemikalien (hauptsächlich Agrochemikalien) umfassen sollte.41 Eine von Fachleuten begutachtete Veröffentlichung mit den Schlussfolgerungen dieser Datenbank soll demnächst geliefert werden. Auf der Grundlage dieser Publikation will ein Team der EPAA gemeinsam mit der European Federation of Pharmaceutical Industries and Associations (EFPIA) ein Konzeptpapier entwickeln, das auf der nächsten ICH-Konferenz vorgestellt werden soll, und konkrete Schritte für Gespräche mit den Regulierungsbehörden vereinbaren.

Die meisten herkömmlichen Testergebnisse sind deskriptiv und liefern keine Informationen über die Abfolge der Ereignisse in Zellen und Geweben, die zur Krebsentwicklung durch Testsubstanzen führen können. Deshalb arbeiten Wissenschaftler, Industrie und Regulationsbehörden mittlerweile an einem sogenannten mechanistischen Ansatz, der von den amerikanischen Regulationsbehörden bereits 2009 in der Publikation „Toxicity in the 21st Century – a Vision and a Strategy“ vorgestellt worden war. Durch die Untersuchungsgenauigkeit und die Möglichkeit des Hochdurchsatzes ließen sich Kosten und Zeit einsparen. Informationssysteme haben sich weiterentwickelt und sind heute in der Lage, Milliarden von Daten auf einmal zu verarbeiten, die International ausgetauscht werden könnten und wichtige Informationen liefern könnten.40

Die Tumorbildung lässt sich zudem mit Hilfe mechanistischer Informationen besser vorhersagen. Experten unterbreiteten daher einen alternativen, mechanistischen Ansatz für die Krebsrisikobewertung von Agrochemikalien.45 Das neue Verfahren sieht vor, Ergebnisse aus Testmethoden zum Nachweis von Wirkungsweisen der nicht-genotoxischen Karzinogenität mit Informationen aus Studien zur subchronischen Toxizität zu verknüpfen. Nach und nach könnten in silico-, in vitro- und Kurzzeit- in vivo-Modelle genutzt werden, um die verschiedenen, an der Krebsentstehung beteiligten Aktionsmodi zu identifizieren. Die Teilnehmer halten die Umsetzung des Ansatzes für realistisch und so soll durch einen kontinuierlichen Dialog zwischen allen Interessengruppen Vertrauen in den vorgeschlagenen Ansatz und seine wissenschaftliche Korrektheit aufgebaut werden. In den kommenden Jahren soll auf die regulatorische Umsetzung hingewirkt werden.

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