Montag, 19 August 2019 07:56

Teststrategie für Entwicklungsneurotoxizitätstests Empfehlung

In der diesjährigen Ausgabe der Serie „Replacement des Jahres“ wird die derzeitige Entwicklung und Anerkennung einer Teststrategie zum Ersatz für Nagetieren in Tests auf Schädigung der Hirnentwicklung (Entwicklungsneurotoxizitätstests) beleuchtet.

Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen arbeiten seit längerem mit Regulationsbehörden wie der European Food and Safety Agency (EFSA) zusammen an einer kosteneffizienten Teststrategie auf Basis einer zuverlässigen in-vitro-Testbatterie, um DNT-Gefahren ermitteln und Maßnahmen zur Verringerung der Exposition gegenüber diesen Chemikalien einleiten zu können. Dabei soll die komplexen Prozesse der Gehirnentwicklung in einzelne räumlich und zeitlich getrennte Entwicklungsschritte zerlegt und für jeden Schritt einzelne Tests entwickelt werden.


Während der Schwangerschaft kann es durch verschiedene Umwelteinflüsse zu einer Störung der Nervenzellentwicklung des menschlichen Fötus kommen. Umweltgifte können die Teilung, Differenzierung oder die Migration von Nervenzellen hemmen (1). Diese Störungen können sich im späteren Leben in Lernschwächen, Entwicklungsverzögerungen, Auffälligkeiten aus dem Autismus-Spektrum oder in Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätsstörungen zeigen. Zwar sind derartige Störungen auf eine Kombination mehrerer Ursachen, unter anderem auch genetischer, zurückzuführen. Umweltchemikalien und Arzneimittel werden jedoch ebenfalls als Einflussfaktoren diskutiert (2). Labor- und Humanstudien haben dies bereits gezeigt (3).

Foto: Volker_Pietzonka_Pixabay


Um die Sicherheit von Chemikalien, wie z.B. von Pestiziden, zu testen, werden gemäß OECD-Richtlinie Tierversuche an der Ratte durchgeführt. Diese Versuche müssen dann durchgeführt werden, wenn es Hinweise aus vorherigen Studien auf Neurotoxizität oder Störungen bei der Cholinesterase (Leberschäden), Veränderungen bei den Schilddrüsenhormonen oder im Östrogenhaushalt gibt. Bei der Pestizidherstellung schreiben die USA Neurotoxizitätsstudien grundsätzlich zur Beurteilung der Sicherheit vor (4). Die drei wichtigsten OECD-Leitlinien, die eine Lebensphasen-abhängige Neurotoxizität untersuchen, sind die OECD-Testrichtlinie 424 (Neurotoxizität), 426 (Entwicklungsneurotoxizitätsstudie) und 443 (Erweiterte Ein-Generationen-Reproduktionstoxizitätsstudie) mit Nagetieren (meist Ratte).

Das Testmittel wird den Muttertieren täglich ab dem Zeitpunkt der Einnistung des befruchteten Eis bis zum 21.Tag der pränatalen Entwicklung (während der Säugephase) nach Möglichkeit über die Route verabreicht, der auch schwangere Frauen ausgesetzt sein könnten. Die Nachkommen sind so während der prä- und postnatalen neurologischen Entwicklung der Prüfsubstanz ausgesetzt (5). Nach OECD-Testrichtlinie 426 werden rund 80 Muttertiere und bis zu 960 Nachkommen getestet. Untersucht werden hiernachfolgend neben dem Körpergewicht das Gehirngewicht, neuropathologische Änderungen, sexuelle Reifung, Verhalten, motorische Aktivität, motorische und sensorische Funktionen, Lernen und Gedächtnis der Jungtiere.

 

Pestizide werden als mögliche Auslöser für neurotoxische Einflüsse diskutiert.
Foto: Erich Westendarp, Pixabay.


Die Tierstudien sind jedoch von begrenzter Aussagekraft und hinsichtlich der Anzahl verwendeter Tiere, Zeit und Kosten umstritten. Wissenschaftler wie Prof. Marcel Leist, der selbst an DNT forscht, kritisieren zum Beispiel, dass die meisten entwicklungsneurotoxischen Phänomene, wie z.B. Sprachstörungen, eine Beeinträchtigung der Aufmerksamkeitsdauer oder der IQ am Tier gar nicht gemessen werden können (6). Hinzu kommt, dass in Studien bereits bedeutende Artunterschiede bei der Entwicklungsneurotoxizität zwischen Nagetier und Mensch durch in-vitro-Testsysteme aufgedeckt werden konnten (7).

Am Horizont: Neue in-vitro- und in-silico-Verfahren in einer abgestuften Teststrategie

Ein Forscherteam unter der Leitung von Prof. Dr. Ellen Fritsche vom Institut für umweltmedizinische Forschung (IUF) in Düsseldorf untersuchte mit Hilfe sogenannter Neurosphären aus neuralen Stammzellen und mit induzierten pluripotenten Stammzellen des Menschen (hiPSCs), der Maus sowie der Ratte den Einfluss von Umweltchemikalien auf die Frühentwicklung des Gehirns. Humane neurale Progenitorzellen bilden in vitro gezüchtet eine Kugelform (Neurosphären) und simulieren den Prozess der Gehirnentwicklung (8) und können so zur Untersuchung von Substanzen auf entwicklungsneurotoxische Einflüsse genutzt werden. Getestet werden in der Arbeitsgruppe Zellproliferation, Zelldifferenzierung, Zellmigration und Apoptose - alles Vorgänge, die sich im entwickelnden Gehirn abspielen (9).

 

Normale humane neurale Progenitorzellen differenzieren in Neurozyten, Astrozyten und Oligodendrozyten. Zu sehen sind Neurozyten (mit dem Marker ß(III)Tubulin grün gefärbt) und Astrozyten (mit dem Marker GFAP rot gefärbt).
Foto: IUF.


Seit 2005 entwickeln internationale Forscher Konzepte zur Anwendung und Interpretation alternativer Methoden mit dem letztlichen Ziel einer regulatorischen Anwendung (10). Regulationsbehörden wie die European Food and Safety Agency (EFSA) arbeiten mit Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen seit längerem zusammen an einer kosteneffizienten Teststrategie auf Basis einer zuverlässigen in-vitro-Testbatterie, um DNT-Gefahren ermitteln und Maßnahmen zur Verringerung der Exposition gegenüber diesen Chemikalien einleiten zu können (9). Dabei soll die komplexen Prozesse der Gehirnentwicklung in einzelne räumlich und zeitlich getrennte Entwicklungsschritte zerlegt und für jeden Schritt einzelne Tests entwickelt werden.

Zu den Schlüsselereignissen der Gehirnentwicklung gehören z.B. die Stammzelldifferenzierung, Zellteilung und Apoptose von Stammzellen des neuronalen Typs, Wanderungsbewegungen der neuronalen Stammzellen an den Ort ihrer Bestimmung, Differenzierung und Reifung von Nerven- und Gliazellen, Synapsenbildung und Netzwerkbildung. Mit einer Batterie mehrerer in vitro-Tests lassen sich nach diesem Konzept Substanzen auf ihren Einfluss auf all diese Entwicklungsschritte sowie auf regionsspezifische Eigenschaften des Gehirns oder auf molekulare Aspekte von hormonell beeinflussten bzw. geschlechtsspezifischen neuronale Zellfunktionen hin untersuchen.

Die neue Methode zum Ersatz des Tierversuchs besteht grob aus einer abgestuften Teststrategie:

Stufe 0: Toxikokinetische Modellierung
Stufe 1: In vitro Tests mit humanen Zellen
Stufe 2: Tests an alternativen Modellorganismen
Stufe 3: In vitro Tests an Nagetierzellen
Stufe 4 (optional): in vivo-Tests mit Nagetieren, wobei dieser Tierversuch nur als allerletztes Instrument vorgesehen ist (11).

Der wissenschaftliche Entwicklungsstand der Testbatterie selbst wird von den Wissenschaftlern derzeit noch als unreif angesehen. Zwar können wichtige Schlüsselereignisse wie Nevenzellteilung, Apoptose und Wanderung der Nervenvorläuferzellen schon gut dargestellt werden. Die Differenzierung und Untersuchung der Funktion der Gliazellen, einem wichtigen Immunzelltyp des Gehirns, die Bildung und elektrische Aktivität neuronaler Netzwerke, sowie der Zusammenhang zwischen Hormonen, Gehirnentwicklung und störenden Chemikalien muss noch weiter erforscht werden. Endokrin wirksame Chemikalien stehen im Verdacht, die Neuroentwicklung zu beeinträchtigen. Der hormonelle Einfluss ist vielfältig und Störungen der Östrogen-, Androgen-, Progesteron, Endocannabinoid-Signalwege könnten Auswirkungen auf das sich entwickelnde Gehirn in bestimmten Entwicklungsstadien haben (12).

Unterstützung durch die Regulationsbehörden

Unter verschiedenen Zulassungsbehörden herrscht Einigkeit zur Unterstützung einer standardisierten DNT-Teststrategie mit einer Reihe von in-vitro-Tests vor Durchführung von in-vivo-Tests. Das bedeutet, der Tierversuch als solches ist nicht vollständig ausgeschlossen, aber weitgehend reduziert. Die derzeitigen tierversuchsfreien Verfahren sind noch nicht geeignet, gesundheitsbezogene Grenzwerte ableiten und letztendlich den Tierversuch beenden zu können. Das Vertrauen in die tierversuchsfreien Verfahren reicht noch nicht aus, es gäbe noch Unsicherheiten. Gegenwärtig werden Leistungsstandards und eine Prüfstrategie für das abgestufte Testsystem etabliert, welches aus einer Mehrzahl an in-vitro-Methoden und einem in-vivo-Versuch mit dem Zebrafisch bestehen soll (9) (Grafik von Caro). Aber auch in silico stehen viele Methoden zur Verfügung oder befinden sich in der Entwicklung, um humanspezifische, molekulare und zelluläre Wirkungen von Chemikalien zu untersuchen und in Vorhersagemodelle für die Entwicklungsneurotoxizität zu integrieren (13).


Vereinfachtes Schema für den Aufbau einer Testbatterie auf Basis der schrittweisen Entwicklung des Gehirns. Die Grafik stellt dar, welche Schritte bereits durch Tests abgedeckt sind (+) und für welche noch Verfahren entwickelt werden müssen (-).  Die Entwicklungsschritte des Gehirns und Nervensystems werden einzeln betrachtet. Die roten Linien kennzeichnen, in welchem zeitlichen Abschnitt der Entwicklung der jeweilige Entwicklungsprozess hauptsächlich, aber nicht ausschließlich abläuft. Zu dieser Zeit ist der Prozess besonders angreifbar, was zu einer Beeinträchtigung der Gehirnentwicklung führen kann. Schema nach Hessel et al. (2018). Toxicology and Applied Pharmacology: 136–152, stark vereinfacht.


Gemeinsam mit der European Food Safety Administration (EFSA), der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD), der amerikanischen Environmental Protection Agency (EPA) und internationalen Wissenschaftlern entwickelt die europäische Validierungsbehörde EURL ECVAM derzeit die Strategie mit Schwerpunkt auf einer Reihe von in-vitro-Methoden, vorzugsweise auf Basis von humaninduzierten pluripotenten Stammzellen. Diese Methoden sollen die Bewertung von Chemikalien hinsichtlich ihrer Wirkung auf kritische Neuroentwicklungsprozesse während einzelner Hirnentwicklungsstadien untersuchen. Die verfügbaren in-vitro-Assays sollen zusammen mit in-silico-Methoden, Nicht-Säugetier-Modellen sowie vorhandenen tierischen und menschlichen Daten in sogenannte Integrated Approaches to Testing and Assessment (IATA) eingebaut werden. Dieser Ansatz wurde auch in ein OECD-Projekt übernommen, die einen OECD-Leitfadens für die in-vitro-Methoden zur DNT-Testung entwickelt. Das Projekt wird von der EFSA, EURL ECVAM und der US-EPA gemeinsam geleitet (3). Der EFSA kommt u.a. als zuständige Überwachungsbehörde für Pestizide eine bedeutende Rolle zu.

17 in-vitro-Methoden sind derzeit bei EURL ECVAM im Validierungsprozess (3). Es wird fest davon ausgegangen, dass eine Verwendung von derzeit verfügbaren human-relevanten in-vitro-Modellen aus induzierten pluripotenten Stammzellen, in Kombination mit den anderen vorgeschlagenen tierfreien Modellen, Ansätze zur Entwicklung von Vorhersagemodellen für DNT-Effekte liefern wird (3).

Lesen Sie im unten angefügten pdf das Interview mit Prof. Dr. Ellen Fritsche.

 

Literatur:

(1) Aschner, M., Ceccatelli, S., Daneshian, M., Fritsche, E., Hasiwa, N., Hartung, T., Hogberg, H. T., Leist, M., Li, A., Mundi, W. R., Padilla, S., Piersma, A. H., Bal-Price, A., Seiler, A., Westerink, R. H., Zimmer, B. & Lein, P. J. (2017). Reference compounds for alternative test methods to indicate developmental neurotoxicity (DNT) potential of chemicals: example lists and criteria for their selection and use. ALTEX 34 (1): 49-74.
(2) Lena Smirnova, Helena T. Hogberg, Marcel Leist & Thomas Hartung (2014). Food for Thought ...: Developmental Neurotoxicity – Challenges in the 21st Century and In Vitro Opportunities. ALTEX 31 (2): 129–156.
(3) EURL ECVAM (2018). Status report on the development, validation and regulatory acceptance of alternative methods and approaches 2018. Publications Office oft he European Union, DOI: 10.2760/818599 (online). https://ec.europa.eu/jrc/en/publication/eur-scientific-and-technical-research-reports/eurl-ecvam-status-report-development-validation-and-regulatory-acceptance-alternative-3
(4) Bal-Price, A., Crofton, K. M., Leist, M. Allen,S., Arand, M., Buetler, T., Delrue, N., Fitzgerald, R. E., Hartung, T., Heinonen, T., Hogberg, H., Hougaard Bennekou, S., Lichtensteiger, W., Oggier, D., Paparella, M., Axelstad, M., Piersma, A., Rached, E., Schilter, B., Schmuck, G., Stoppini, L., Tongiorgi, E., Tiramani, M., Monnet-Tschudi, F., Wilks, M. F., Ylikomi, T. & Fritsche, E. (2015). International STakeholder NETwork (ISTNET): creating a developmental neurotoxicity (DNT) testing road map for regulatory purposes. Arch Toxicol 89: 269–287. DOI 10.1007/s00204-015-1464-2
(5) https://www.oecd-ilibrary.org/environment/test-no-426-developmental-neurotoxicity-study_9789264067394-en
(6) Leist, M. (2016). How to link test system to the prediction of developmental neurotoxicity (DNT). EFSA-Workshopbeitrag OECD/EFSA Workshop on Developmental Neurotoxicity (DNT): the use of non-animal test methods for regulatory purposes. online 18 October 2016. http://www.efsa.europa.eu/en/events/event/161018b.
(7) Dach, K., Bendt, F., Huebenthal, U., Giersiefer, S., Lein, P. J., Heuer, H. & Fritsche, E. (2017) BDE-99 impairs differentiation of human and mouse NPCs into the oligodendroglial lineage by species specific modes of action. Scientific Reports 7: 44861. DOI: 10.1038/srep44861
(8) Moors, M. et al. (2009): Human Neurospheres as Three-Dimensional Cellular Systems for Developmental Neurotoxicity Testing. Environmental Health Perspectives 117 (7): 1131-1138.
(9) Fritsche, E., Crofton, K. M., Hernandez, A. F., Hougaard Bennekou, S., Leist, M., Bal-Price, A., Reaves, E., Wilks, M. F., Terron, A., Solecki, R., Sachana, M., Gourmelon, A. (2017). OECD/EFSA Workshop on Developmental Neurotoxicity (DNT): The Use of Non-Animal Test Methods for Regulatory Purposes. Meeting Report. ALTEX 34(2): 311-315. doi:10.14573/altex.1701171
(10) Barenys, M. & Fritsche, E. (2018). A Historical Perspective on the Use of Stem/Progenitor Cell-Based In Vitro Methods for Neurodevelopmental Toxicity Testing. Toxicological Sciences 165(1): 10–13.
(11) https://chemicalwatch.com/crmhub/50778/dnt-in-vitro-test-battery-agreed-at-oecdefsa-workshop
(12) Fritsche, E., Barenys, M., Klose, J., Masjosthusmann, S., Nimtz, L., Schmuck, M., Wuttke, S. & Tigges, J. (2018). Current Availability of Stem Cell-Based In Vitro Methods for Developmental Neurotoxicity (DNT) Testing. Toxicological Sciences 165/1: 21-30. doi: 10.1093/toxsci/kfy178.
(13) Fritsche, E., Grandjean, P., Crofton, K. M., Aschner, M., Goldberge, A., Heinonen, T., Hessel, E. V. S., Hogberg, H. T., Hougaard Bennekou, S., Lein, P. J., Leist, M., Mundy, W. R., Paparella, M., A. H. Piersma, Sachana, M., Schmuck, G., Solecki, R., Terron, A., Monnet-Tschudi, F., Wilks, M. F., Witters, H., Zurich M.-G. & Bal-Price, A. (2018). Consensus statement on the need for innovation, transition and implementation of developmental neurotoxicity (DNT) testing for regulatory purposes. Toxicology and Applied Pharmacology 354: 3–6.