Mittwoch, 29 Juni 2011 00:10

Interview mit Tierschutzforschungspreisträger Rheinland-Pfalz

Das Land Rheinland-Pfalz hat zum dritten Mal den Preis zur Förderung der Erforschung von Ersatz- und Ergänzungsmethoden zum Tierversuch vergeben. In diesem Jahr wählte die Fachjury die Arbeit der Forschungsgruppe von Prof. Dr. Claus-Michael Lehr, Dr. Eva-Maria Collnot und Fransisca Leonhard von der Universität des Saarlandes, Fachrichtung Pharmazie, Biopharmazie und Pharmazeutische Technologie aus. InVitroJobs führte ein Kurzinterview im Vorfeld der Tierschutzforschungspreisverleihung.


Die drei Preisträger wurden am 30. Juni im Mainzer Ministerium für Umwelt, Landwirtschaft, Ernährung, Weinbau und Forsten für ihr Projekt „A three-dimensional coculture of enterocytes, monocytes and dendritic cells to model inflamed intestinal mucosa in vitro” ausgezeichnet. In der Arbeit geht es um die Entwicklung eines in vitro-Kokulturen-Systems, bestehend aus einer Enterozytenzelllinie1 (CaCo-2) und die Erzeugung eines Darmentzündungs-prozesses, um hier die Veränderung der Zellbarriereeigenschaften bei der Gabe von z. B. Medikamenten untersuchen zu können. Die Laudatio hielt Jurymitglied Dr. Christiane Baumgartl-Simons, Vorsitzende von Menschen für Tierrechte Rheinland-Pfalz und stellvertretende Vorsitzende des Bundesverbandes  Menschen für Tierrechte.

InVitroJobs führte ein Kurzinterview im Vorfeld der Tierschutzforschungspreisverleihung am 30.06.2011

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Preisträger und Preisträgerinnen des diesjährigen Tierschutzforschungspreises des Landes Rheinland-Pfalz (von links nach rechts): Dr. Eva-Maria Collnot, Fransisca Leonard und Prof. Dr. Claus-Michael Lehr.
Foto: Xavier LeGuevel.


InVitroJobs: Freuen sie sich auf ihren Tierschutzforschungspreis? Bei der Vielzahl an Preisen insbesondere im Bereich der Pharmazie: Welche Bedeutung hat er für Sie?

Prof. Claus-Michael Lehr: So viele Preise gibt es da auch wieder nicht. Mit 20.000 Euro ist dies der höchstdotierte Preis den wir bislang überhaupt gewonnen haben.

InVitrojobs: Was sind die aktuellen Forschungsergebnisse bei der Untersuchung dieses in vitro-Kokulturen-Systems mit einer Enterozytenzelllinie?

Prof. Claus-Michael Lehr: Wir können durch Zugabe geeigneter Stoffe reproduzierbar entzündliche Prozesse auslösen, anhand bestimmter Biomarker2 den Verlauf der Erkrankung verfolgen und quantifizieren sowie die Wirkung anti-entzündlicher Medikamente hinsichtlich ihrer Wirksamkeit und Wirkungsdauer untersuchen.

InVitroJobs: Welche Tiere und wie viele werden für solcher Art Fragestellungen normalerweise eingesetzt?

Prof. Claus-Michael Lehr: Vor allem Ratten oder Mäuse, wobei es neben den sogenannten „akuten“ Entzündungsmodellen3, bei denen entsprechende Chemikalien verabfolgt werden, auch chronische Modelle4 gibt, die auf genetischen Veränderungen beruhen.

InVitroJobs: Wie lange sind die Enterozyten in Ihren Kokulturen haltbar? Beeinflusst die Lebensdauer dieser Zellen Ihre Forschungsarbeiten?

Prof. Claus-Michael Lehr: Caco-2 Zellen benötigen typischerweise 21 Tage, bis sie voll differenziert sind und können danach über einige Tage verwendet werden. Davon sind wir auch bei der Entwicklung des Kokultur-Systems ausgegangen. Die Kulturbedingungen so zu optimieren, dass man möglicherweise schon nach kürzerer Zeit und über längere Zeiträume vergleichbare Daten erhält, wäre Gegenstand nun durchzuführender Validierungsstudien eines solchen Testsystems.

InVitroJobs: Sie forschen an Zellbarrieren und Nanopartikeln: Welche neuesten Erkenntnisse liegen zu den Transporten durch Zellbarrieren vor?

Prof. Claus-Michael Lehr: Partikel bestimmter Größe scheinen sich bevorzugt in entzündeten Bereichen des Darmepithelseinzulagern, allerdings ohne dasselbe in nennenswertem Umfang zu durchdringen und ins Blut zu gelangen. Dies schafft Perspektiven, anti-entzündliche Wirkstoffe mit solchen „Delivery Systemen“ dort zu lokalisieren, wo die Wirkung gewünscht ist und unerwünschte Wirkungen an anderer Stelle  (z. B. durch systemische Absorption in den Blutkreislauf) zu reduzieren. Dieses als „drug targeting“5 bekannte Prinzip findet im Zusammenhang mit Zytostatika6 und Tumorerkrankungen dort schon längere Zeit Anwendung.

InVitroJobs: Welches sind derzeit die dringendsten Probleme, die bei der Forschung an Zellbarrieren auftreten?

Prof. Claus-Michael Lehr: Nachdem die Machbarkeit eines solchen Systems grundsätzlich bewiesen werden konnte, muss nun eine sehr sorgfältige sogenannte Validierung erfolgen.- Dabei muss genau gezeigt werden, innerhalb welcher Bedingungen und Toleranzgrenzen das System verlässlich arbeitet. Dazu gehören auch Vergleichsstudien („Ringversuche“) in anderen Labors. Erst wenn dieser relativ langwierige Prozess abgeschlossen ist kann überhaupt ein statistisch belastbarer Vergleich mit Tiermodellen zur sog „vitro-vivo-Korrelation“ angestellt werden. Dies setzt voraus, dass die zum Vergleich heranzuziehenden Tiermodelle zunächst für sich genommen ebenfalls entsprechend validiert sind.

Wir danken für das Gespräch.


Literatur:
Leonhard, F., Collnot, E. M. & Lehr, C. M. (2010): A three-dimensional coculture of enterocytes, monocytes and dendritic cells to model inflamed intestinal mucosa in vitro. MolPharm.2010 Dec 6;7(6):2103-19. Epub 2010 Nov 1.

Glossar:
1 Enterozytenzelllinie (CaCo-2)
Enterozyten sind häufigsten Zelle des Dünndarmepithels und  als solche für die Resorption unterschiedlicher Stoffe aus der Nahrung zuständig (Wikipedia).
Die Caco-2 Zelllinie ist eine gut differenzierte Zelllinie, die einem humanen Kolonadenokarzinom entstammt (ROUSSET et al. 1980 in Möhring 2003). Sie ist ein sehr gutes Modell für Studien über die intestinale Zellproliferation und –differenzierung (PAGEOT et al. 2000 in Möhring 2003). Die Zellkultur bildet einen dem Schleimhautepithel ähnlichen geschlossenen Monolayer und weist typische Charakteristika der humanen Darmmukosa auf (DELIE u. RUBAS 1997, GAUTHIER et al. 2001 in Möhring 2003).

2 Biomarker
Eigenschaft (z. B. eine Mutation oder eine bestimmte Enzym- oder Ionenkonzentration), die objektiv gemessen und evaluiert werden kann und als Indikator für normale oder pathogene biologische Prozesse oder für pharmakologische Reaktionen auf therapeutische Interventionen dient (Bracht 2009).

3 Akutes Entzündungsmodell
Bei den akuten Entzündungsformen steht die Veränderung der Mikrozirkulation im Vordergrund mit der Ausschüttung von Entzündungsmediatoren (körpereigene Stoffe, die eine Entzündungsreaktion des Körpers einleiten oder aufrechterhalten), die in der ersten Phase vor allem von Endothelzellen und dem sie umgebendem Gewebe gebildet werden. Im weiteren Verlauf werden diese Botenstoffe fast ausschließlich von eingewanderten Leukozyten, vorwiegend Neutrophilen und Makrophagen, produziert, mit dem Zweck die Schadsubstanz/den Krankheitsauslöser zu eliminieren und die Entzündung zum Ausheilen zu bringen (Walther 2010).
Beim Tierexperiment wird an einem ursprünglich „gesunden“ Tier künstlich z. B. durch Injektion in das Ohr oder die Pfote eine Entzündung ausgelöst, die Voraussetzung für die dann folgende Untersuchung ist.

4 Chronisches (Entzündungs)Modell
Gelingt es nicht den entzündungsstimulierenden Reiz auszuschalten, so kann es zur Chronifizierung kommen. Dabei stehen vor allem wachsende oder wuchernde Umbauvorgänge mit Gefäßeinsprossung und bindegewebiger Abgrenzung von abgestorbenem und gesundem Gewebe  im Vordergrund (Walther 2010).
Meist ist  ist das Tier“modell“ bereits durch gentechnische Veränderung dauerhaft mit der Entzündung „ausgestattet“, um an ihm Versuche durchzuführen.

5 drug targeting
Zielgerichtete und selektive Anreicherung oder Freisetzung eines Arzneistoffs am gewünschten Wirkort ( Cogito et al. 2006-2011).

6 Zytostatika
das Zellwachstum hemmende Stoffe; Krebsmittel; Mittel gegen Autoimmunerkrankungen; Stoffe zur Hemmung der Zellteilung (http://medikamente.onmeda.de/Wirkstoffgruppe/Zytostatika.html)

Quellen:
Möhring, M. (2003): Die Caco-2 Zellkultur, ein geeignetes In-vitro-System zum Studium anti-gen-abhängiger Effekte auf Enterozyten. Inaugural-Dissertation , Universität Leipzig. http://www.qucosa.de/fileadmin/data/qucosa/documents/3384/Die_Caco-2_Zellkultur,_ein_geeignetes_In-vitro-System_zum_St.pdf
Wikipedia, div. Bearbeiter (2006-2011): Enterozyt. http://de.wikipedia.org/wiki/Enterozyt.
Bracht, K. (2009): Pharmazeutische Zeitung online. http://www.pharmazeutische-zeitung.de/index.php?id=29346
Walther, S.(2010): Etablierung eines Entzündungsmodells an der isoliert profundiert humanen Placenta. Dissertation an der Medzinischen Fakultät der Ludwig Maximilians Universität München.
Cogito et al. (2006-2011): Drug targeting. Wikipedia. http://de.wikipedia.org/wiki/Drug_Targeting