Donnerstag, 13 Dezember 2012 08:21

Systembiologe Tierschutzforschungspreisträger des BMELV 2012

Dr. Ralf Herwig vom Berliner Max-Planck-Institut für molekulare Genetik, Arbeitsgruppe Bioinformatik, ist der diesjährige Preisträger des Tierschutzforschungspreises des Bundesministeriums für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz (BMELV). Er wird für seine Entwicklung eines systembiologischen Verfahrens zur Beurteilung der Karzinogenität von Chemikalien in der Leber ausgezeichnet.


Die Systembiologie befasst sich mit den komplexen biologischen Prozessen zwischen und in Zellen, Organen oder auch dem gesamten Organismus. Ziel ist nicht nur das Verständnis sondern vor allem die Vorhersage solcher Prozesse. Die Arbeitsgruppe des Systembiologen Dr. Herwig befasst sich mit in silico-Methoden, d. h. mit der Computermodellierung komplexer biologischer Stoffwechselprozesse (Signalwege, sogenannte Pathways) und mit der Integration experimenteller Daten in diese Modelle. Dr. Herwig und sein Team entwickeln Verfahren, um die Toxizität von chemischen Substanzen oder die Toxizität und Wirksamkeit von Medikamenten vorhersagen zu können.

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Dr. Ralf Herwig erhält die Urkunde vom Parlamentarischen Staatssekretär des Bundesministeriums für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz, Peter Bleser.
Foto: Christiane Hohensee



Grundlage sind Ergebnisse, die aus sogenannten Mikroarray-Studien, aus Genexpressionsanalysen oder von massenspektrometrischen Daten gewonnen worden sind. Für die Untersuchungen werden Ergebnisse zu den Signalwegen aus in vitro-Zellkulturmodellen verschiedener Organzelltypen,  nachdem z. B.  Zellen oder Gewebe einer Prüfsubstanz ausgesetzt wurden, herangezogen. Die Forscher analysieren massenspektrometrische Daten und identifizieren Proteine, die beim Fremdstoffmetabolismus oder bei der Entwicklung bestimmter Krankheiten typisch sind. Dabei spielt auch die Betrachtung von Interaktionen der Proteine untereinander oder von Proteinen mit der DNA eine Rolle. Vor kurzem hat die Arbeitsgruppe eine Datenbank entwickelt, in der Interaktionen zwischen Zellmolekülen erfasst sind.

Die Gruppe entwickelt Software und Verfahren aus dem Bereich der multivariaten Statistik sowie Konzepte auf dem Gebiet der Wahrscheinlichkeitstheorie und anderen statistischen Verfahren. Die Arbeitsgruppe hat eine besondere Expertise in der Modellierung von Krankheitsprozessen wie Krebs oder Alterungserscheinungen.


In dem systembiologischen Verfahren zur Beurteilung der Karzinogenität von Chemikalien in der Leber hat der Preisträger gleichzeitig ein Ersatzverfahren zu Tierversuchen entwickelt, das eine Vielzahl von Tieren (vor allem Nagetiere) in chronischen Toxizitätstests (2-Jahres-Studien) zur Kanzerogenität von chemischen Substanzen ersetzen kann.


InVitroJobs gratulierte dem Preisträger und führte ein kurzes Gespräch im Rahmen der Preisverleihung.

InVitroJobs: Wir gratulieren Ihnen herzlich zu dem Tierschutzforschungspreis.

Dr. Ralf Herwig: Recht herzlichen Dank.

InVitroJobs: Im Zusammenhang mit der Entwicklung eines systembiologischen Vorhersagemodells ist von einem modernen in vitro-Modell mit humanen Hepatozyten-Vorläuferzellen die Rede, das Umweltchemikalien auf Kanzerogenität testen kann. Haben Sie das auch entwickelt?

Dr. Ralf Herwig: Nein, wir sind eine rein bioinformatische Arbeitsgruppe. Das in vitro-Modell ist entstanden im Rahmen des carcinoGENOMICS-Projekts, das von der europäischen Union gefördert und von der Universität Maastricht koordiniert wird. Hier wurden zu verschiedenen Organen wie Leber, Niere und Lunge in vitro-Modelle entwickelt und Substrate getestet. In Zusammenarbeit mit der Schwedischen Firma Cellartis AG (Anm.: jetzt Cellectis) wurde ein in vitro-Hepatozyten-Modell aus humanen embryonalen Stammzellen entwickelt. Am Ende bekommt man eine „metabolisch kompetente“ Zelllinie, d. h. die Zellen sind in der Lage, auf die Behandlung mit einer Substanz mit einer Genexpression zu reagieren bzw. auch die Genexpression zu aktivieren, die mit dem Fremdstoffmetabolismus in Zusammenhang stehen. Diese metabolische Kompetenz können wir messen.

InVitroJobs: Wie werden denn die Daten erhoben?

Dr. Ralf Herwig: Zentrale Readouts im Projekt sind das Transkriptom und das Metabolom. Wir nutzen hierfür Oligochips, die von der Firma Affymetrix entwickelt wurden. Auf denen befinden sich Reporter für das nahezu gesamte humane Transkriptom. Präpariert man die zu untersuchende RNA mit einem Fluoreszenzfarbstoff, und werden Gene nach dem Auftragen einer Substanz aktiviert, so lässt sich dies anhand der durch die Reporter gebundene Fluoreszenz erfassen. Bei der Genexpression fanden wir Marker, die stark ausgeprägt waren und solche, die weniger stark ausgeprägt waren. Wir betrachteten vor allem die Funktion der Gentranskripte und konnten eine hohe metabolische Kompetenz feststellen. So können wir die Gene identifizieren, die beim Fremdstoffmetabolismus eine Rolle spielen. Mittels einer Varianzanalyse (Anova-Modell) konnten wir Gene identifizieren, die auf die Testsubstanzen reagieren, die wir in drei Klassen eingeteilt haben (genotoxische Karzinogene, nicht-genotoxische Karzinogene und nicht-Karzinogene als Kontrollgruppe). Der Großteil der Gene stand mit Fremdstoffmetabolischen Prozessen in Beziehung. Um die Funktion dieser Response-Gene zu charakterisieren, nutzten wir eine in der Arbeitsgruppe entwickelte Datenbank, ConsensusPathDB, die eine große Menge an menschlichen Interaktionen, also molekularen Beziehungen zwischen diesen Genen vorhält und fanden unter ihnen einen Teil, der mit DNA-Schädigung, Krebsentwicklung und Apoptose in Zusammenhang steht. Im Zusammenhang mit der Vorhersage der Karzinogenität einer Testsubstanz sind die Krebsproteine wichtig, also solche, die einen entstandenen Zellschaden kennzeichnen, z. B. ATM-Proteine (Sensor für Doppelstrangbrüche der DNA), Stoffwechselprodukte, die auf einen programmierten Zelltod hinweisen sowie Zellzyklusproteine, allesamt „Hallmarks of Cancer“ im Sinne von Hanahan und Weinberg.

In einem weiteren Arbeitsschritt wurden dann die Gene den entsprechenden molekularen Pathways zugeordnet, und diese Pathways direkt zur Klassifikation der Testsubstanzen benutzt. In der Arbeit konnten wir zeigen, dass im Gegensatz zum Gen-basierten Ansatz, dieser Pathway-basierte Ansatz die Klassifikation wesentlich verbessert. Insbesondere im Hinblick auf die nicht-genotoxischen karzinogenen Substanzen, die also nicht primär erbgutverändernd sind, sondern ihre krebserzeugenden Effekte durch viele molekulare Pathways erwirken, hat sich dieser Ansatz als sehr vorteilhaft erwiesen. Hier konnten z.B. spezifische Pathways für nicht-genotoxische Karzinogenität (z.B. Fettstoffwechsel) identifiziert werden.

Die Methode selbst ist stabil und reproduzierbar und wurde schon von der ECVAM in einer Doppelblindstudie prävalidiert.

InVitroJobs: Können Sie sich vorstellen, dass der systembiologische Ansatz einmal den Tierversuch in der Toxikologie ablösen kann?

Dr. Ralf Herwig: Mittel- oder langfristig kann ich mir das vorstellen, das liegt vor allem am technologischen Fortschritt, den wir in der Wissenschaft machen. An der Genomsequenzierung lässt sich das veranschaulichen: Während das humane Genomprojekt für die Sequenzierung des ersten menschlichen Genoms ca. 3 Mrd. US-Dollar und etwa 10 Jahre benötigte mit hunderten von Wissenschaftlern weltweit, kann man ein menschliches Genom heutzutage für unter 10.000 US-Dollar in wenigen Wochen sequenzieren und analysieren. Das bedeutet, dass wir sehr viel genauere Daten über die Substanzen und die zellulären Systeme erlangen werden, was hoffentlich dazu führt, dass die Vorhersagen aus in vitro Systemen besser werden und dann den Tierversuch ablösen oder wenigstens wesentlich reduzieren.

InVitroJobs: Der Schwerpunkt des PREDICT-Projekts, dessen Koordinator Sie sind, liegt in der individualisierten Krebstherapie. Worin liegt derzeit die große Herausforderung in der Krebsforschung?

Dr. Ralf Herwig: Das Hauptproblem ist die mangelnde Effektivität bei der Krebsbehandlung. Das liegt vor allem an den individuellen Mutationen der Tumorzellen, was dazu führt, dass die Therapien für bestimmte Subpopulationen unwirksam sind. Die zu erkennen und eine optimale Therapie zu entwickeln ist die Herausforderung für Systembiologen. Man weiß heute viel über den Patienten, was wir vor zehn Jahren noch nicht wussten. Molekulare Pathways helfen uns dabei zu bestimmen: hier liegt eine Mutation vor, und der Wirkstoff wird nicht den gewünschten Nutzen bringen. Die Herausforderung ist es, durch Vorhersage den Patienten vor einer unnützen Therapie ausschließen zu können, und zu einer zielgerichteten Therapie zu kommen.

InVitroJobs: Für studentische Leser, die eine Perspektive suchen: was muss ich für eine Qualifikation besitzen, um Systembiologe zu werden? Gibt es da inzwischen einen Masterstudiengang?

Dr. Ralf Herwig: Einen Studiengang Systembiologie an sich gibt es nicht. Angesiedelt ist die Systembiologie als Schwerpunktfach bei bereits etablierten Studiengängen innerhalb der Biologie, Biophysik oder der Bioinformatik. Die Systembiologie liegt genau in der Schnittstelle zwischen Biologie und Mathematik, zwischen systemweiten Daten und ihrer mathematischen Modellierung. Wichtig sind ein mathematisches Verständnis, ein Verständnis dynamischer Systeme, der Statistik, Bioinformatik, das Wissen, wo die genetischen Daten herkommen sowie Kenntnisse aus Biologie und Medizin.

InVitroJobs: Wir danken für das Gespräch.

Dr. Ralf Herwig: Gerne.


Empfohlene Literatur:

Yildirimman, R. Et al (2011): Human Embryonic Stem Cell Derived Hepatocyte-Like Cells as a Tool for In Vitro Hazard Assessment of Chemical Carcinogenicity. Toxicologiocal Sciences 124 (2): 278-290. (doi:10.1093/toxsci/kfr225)
Hanahan, D. & Weinberg, R. A. (2000): The Hallmarks of Cancer. Cell 100: 57-70.

Außerdem interessant:

carcinoGENOMICS-Projekt: http://www.carcinogenomics.eu/
Molekülinteraktions-Datenbank: http://ConsensusPathDB.org