Diese Seite drucken
Artikel bewerten
(0 Stimmen)
Donnerstag, 20 Juni 2013 16:47

Arbeitsgruppe im Portrait: PharmaInformatic Empfehlung

InVitroJobs stellt regelmäßig Wissenschaftler und ihre innovativen Forschungen als „Arbeitsgruppe im Portrait“ vor. Im Fokus stehen neu entwickelte Methoden, ihre Evaluation sowie der Ausblick, welche tierexperimentellen Versuchsansätze gemäß dem 3R-Prinzip (reduce, refine, replace) nach Möglichkeit reduziert und bestenfalls ersetzt werden können. In dieser Ausgabe stellen wir PharmaInformatic aus Emden vor.

 

Arbeitsgruppe im Portrait: PharmaInformatic


Das Unternehmen PharmaInformatic hat sich auf Entwicklung von Expertensystemen spezialisiert. Aktuelle wissenschaftliche Erkenntnisse aus der Informatik (Chemieinformatik, Bioinformatik und der künstlichen Intelligenz) werden dabei eingesetzt, um Softwareprodukte und Dienstleistungen speziell für die Pharmaindustrie zu entwickeln. Mit Hilfe von Computerprogramme lassen sich Tierversuche einsparen, da nach Angaben des Hersteller die Vorhersagen des Expertensystems präziser sind als präklinische Versuche an Tieren.  So lasse sich demnach die orale Bioverfügbarkeit im Menschen viel genauer und verlässlicher einschätzen als bei Untersuchungen in Tieren. Potenzielle Substanz-Kandidaten könnten zudem für die pharmazeutische Wirkstoffentwicklung bereits vor einer Testung erkannt und damit Entwicklungskosten gesenkt werden.

 



Ganz im Zeichen von Molekülen: Firmenlogo von PharmaInformatic
Grafik: PharmaInformatic.


Im Fokus steht die Entwicklung eines Expertensystems zur Beurteilung der Bioverfügbarkeit einer Substanz im Organismus. Ein Expertensystem ist ein Computerprogramm, das den Nutzer bei der Beantwortung komplizierter Fragestellungen wie ein Experte unterstützt und dabei Handlungs-empfehlungen auf der Grundlage einer Wissensbasis ausspricht. Dieses System heißt IMPACT-F und bezieht seine Datengrundlagen aus einer zugehörigen Wissensdatenbank PACT-F.

Hinter dem Begriff PACT-F steht "Preclinical And Clinical Trials Knowledge Base on Bioaviability", was sich mit „präklinische und klinische Erkenntnisse aus Versuchen zur Bioverfügbarkeit“ übersetzen lässt.

Bei der Medikamentenentwicklung müssen die Hersteller laut Gesetz präklinische und klinische Versuche durchführen. Bei den präklinischen Versuchen werden Tiere eingesetzt, sofern kein anerkanntes Tierversuchsersatzverfahren vorhanden ist. Danach erfolgen klinische Versuche, wenn sich aus den präklinischen Versuchen ergeben hat, dass die Testsubstanz keine Gefahr oder Nacheile auf den/die bisherigen Testorganismus ergeben hat

Was ist Bioverfügbarkeit überhaupt?

Die Bioverfügbarkeit ist ein wichtiger Bestandteil der sogenannten ADME-Eigenschaften einer Substanz, wobei

A   Aufnahme bzw. Absorption
D   Distribution (Verteilung)
M   Metabolismus (Stoffumwandlung)
E    Exkretion (Ausscheidung)

bedeutet. Die Bioverfügbarkeit umschreibt die Prozesse A=Absorption und M=Metabolismus.

Unter Bioverfügbarkeit versteht man die Verfügbarkeit einer extravasal (also außerhalb der Blut- oder Lymphgefäße) verabreichten Substanz für ihre Wirkung, also der Anteil, der tatsächlich den systemischen Kreislauf und damit den Wirkort erreicht1. Dies impliziert, dass, um eine Substanz zum Zielorgan zu bringen,  sie erst über die Magen- bzw. Darmschleimhaut resorbiert werden muss. Von dort aus gelangt sie zur Blutbahn, wird an Transportproteine gebunden und  transportiert. Wird eine Substanz oral aufgenommen, so wird ihre Menge in der Regel durch unvollständige Resorption der Magen- und Darmschleimhaut und einen sogenannten präsystemischen Metabolismus in Darmschleimhaut und Leber reduziert. Letzteren Vorgang nennt man First-pass-Effekt. Die Kenntnis über das Ausmaß dieser Prozesse ist immens wichtig, um die zutreffende Substanzdosis zu ermitteln.

Die Bioverfügbarkeit bei einer intravenös verabreichten Substanz beträgt zunächst 100 Prozent im Blutplasma, die Konzentration nimmt dann in einem bestimmten Kurvenverlauf ab, weil der Stoff umgewandelt (biotransformiert) und ausgeschieden wird. Extravasal (z. B. oral) verabreichte Substanzen gelangen dagegen erst nach einer gewissen Zeit ins Blutplasma, der Konzentrations-Zeitverlauf ist anders.




Die Bioverfügbarkeit ist stark vom First-pass-Effekt abhängig: Nachdem die Substanz durch die Magen- bzw. Darmschleimhaut aufgenommen worden ist, gelangt sie über das Pfortadersystem in die Leber und wird hier schon mal verstoffwechselt und ein Teil zur Ausscheidung vorgesehen, d.h. gelangt gar nicht zum Zielorgan. Der „Rest“ gelangt über die Lebervene wieder in den Blutkreislauf und wird zum Zielorgan weitertransportiert, ist also bioverfügbar. All diese Prozesse sowohl bei Mensch und Tier  als auch bei verschiedenen Tierarten sind in unterschiedlichem Maße vorhanden, sie unterscheiden sich in gewissem Maße auch unter den Menschen1 ("Inter-subject-variability" (siehe auch unter: http://www.pharmainformatic.com/html/prediction_of_f_.html#Inter-subject-variability).

PACT-F
Die Wissensdatenbank PACT-F enthält knapp 8300 Einträge mit Ergebnissen aus präklinischen und klinischen Untersuchungen zur Bioverfügbarkeit. Jeder Eintrag enthält die chemische Struktur der untersuchten Substanz, sowie weitere Informationen, wie z.B. Substanzformulierung zum Verabreichungsweg (wie wird die Substanz eingenommen: oral, subkutan, intravenös, intramuskulär, intraperitoneal oder rektal)2.




Grafik: PharmaInformatic.


Eine sehr große Rolle spielen die Metabolismusklassen, die am Umbau der Substanz im Körper und an der Vorbereitung zur Ausscheidung beteiligt sind. Hier sind vor allem Stoffwechselenzyme bedeutend, bei denen in verschiedenen Menschen genetische Polymorphismen vorliegen, d.h. das Gen ist durch Vervielfältigung z.B. mehrfach vorhanden, wodurch die Substanz schneller abgebaut werden kann und dadurch schwächer oder gar nicht wirkt. Es gibt aber auch andere Mechanismen, wo z. B. Stoffwechselenzyme in Wechselwirkung treten, so dass es zu Nebenwirkungen kommen könnte. All diese Mechanismen sollen im Vorfeld schon vor dem Test berücksichtigt und bewertet werden können.

Weitere wichtige Informationen der Datenbank sind z.B. Angaben zur Dosierungshäufigkeit, bei klinischen Untersuchungen am Menschen das Alter des Menschen, Geschlecht und Ethnie. Auch der Gesundheitszustand der Untersuchungsteilnehmer ist erfasst. Er spielt eine wichtige Rolle bei der Aufnahme einer Substanz in die Blutbahn. Teilnehmer mit einer beeinträchtigten Leber-funktion z.B. können eine weitaus höhere Bioverfügbarkeit erzielen als gesunde Probanden.

Bei präklinischen Untersuchungen ist die Angabe der eingesetzten Tierarten, deren Gesundheitsstadium und Futterbedingungen von Bedeutung.

IMPACT-F
Das Expertensystem IMPACT-F sagt die orale Bioverfügbarkeit einer Substanz im Menschen voraus. Die Berechnungen basieren auf zuverlässigen Computermodellen3.

Die Leistungsfähigkeit und Qualität der Modelle wurden mit 34 verschiedenen Pharmazeutika bzw. Testkandidaten überprüft, die in der Krebstherapie, als Antiinfektiva, im Bereich der Behandlung von Erkrankungen des Zentralnervensystems, des Gastrointestinaltrakts, der Nieren und von Entzündungen vorgesehen sind.




Grafik: PharmaInformatic.


Die Vorhersagen mit dem Modell waren präziser als präklinische Versuche an Tieren. Die Vorhersagen korrelierten gut mit den experimentellen Ergebnissen aus klinischen Studien zu den Pharmazeutika.

Um das Computerprogramm nutzen zu können, muss eine Lizenz erworben werden.

Spezies-Unterschiede in der Bioverfügbarkeit nach oraler Gabe Im Rahmen der Entwicklung des Expertensystems wurden auch die Unterschiede zwischen den einzelnen untersuchten Tierarten näher beleuchtet4. Durch die Analyse der Wissensdatenbank PACT-F war es möglich, die experimentellen Ergebnisse von Tierversuchen und von klinischen Studien am Menschen auf der Basis von mehr als hundert zugelassenen Medikamenten zu vergleichen. Die Forschungsergebnisse des Unternehmens (siehe Balkengrafik) zeigen, dass die im Tier gemessene orale Bioverfügbarkeit bei einer Vielzahl von Wirkstoffen nicht mit dem beim Menschen ermittelten Wert übereinstimmt: Zum Teil wurden sehr große Unterschiede in der oralen Bioverfügbarkeit zwischen Mensch und Tier gefunden. So zeigt beispielsweise das Antibiotikum Ciprofloxacin beim Menschen und in Tieren starke Unterschiede in der oralen Bioverfügbarkeit, wie mit der Auswertung der Wissensdatenbank ermittelt werden konnte.


Grafik: PharmaInformatic


Neben der Präzision in der Herangehensweise besteht der Vorteil dieses Expertensystems darin, Versuchstiere dort einsparen zu können, wo sie zur Ermittlung der Substanzdosis dienen.


„... bedeutend genauer und verlässlicher als Tierversuche ...“

InVitroJobs führte ein Interview mit dem Gründer und Leiter von PharmaInformatic, Dr. Wolfgang Boomgaarden, zu seinen Expertensystemen.





Foto: Wolfgang Boomgaarden.


InVitroJobs: Wie sind Sie auf die Idee gekommen, eine Datenbank für die Bioverfügbarkeit von Wirkstoffen zu entwickeln?

Dr. Boomgaarden: In Gesprächen mit forschenden Pharmaunternehmen wurde ich vor Jahren gefragt, ob wir, neben unseren anderen Produkten, auch die orale Bioverfügbarkeit von neuen Wirkstoffen prognostizieren könnten.

Die orale Bioverfügbarkeit ist eine der wichtigsten Eigenschaften bei der Entwicklung neuer Medikamente. Um solche Vorhersagemodelle entwickeln zu können, benötigt man eine sehr große Menge an Daten und Informationen, welche den jeweiligen Wirkstoffen und chemischen Strukturformeln zugeordnet werden müssen.

Die Entwicklung der Wissensdatenbank PACT-F erforderte viele Jahre, da die detaillierten Ergebnisse und Versuchsbedingungen von mehr als 5000 wissenschaftlichen Veröffentlichungen zur Bioverfügbarkeit von Wirkstoffen manuell ausgewertet, analysiert und strukturiert werden mussten.

Auch wenn dieser Entwicklungsprozess sehr arbeitsaufwändig und mühselig war, hat er sich gelohnt: Wir verfügen jetzt über die weltweit größte und am höchsten annotierte Wissensdatenbank zur Bioverfügbarkeit von Wirkstoffen und Medikamenten, welche zur allgemeinen Erforschung der Bioverfügbarkeit von Wirkstoffen eingesetzt wird.


InVitroJobs: Was haben Sie untersucht und was für Erkenntnisse haben Sie daraus gezogen?

Dr. Boomgaarden: Bislang haben wir im Detail untersucht, wie geeignet Tierversuche sind, um die orale Bioverfügbarkeit von Medikamenten im Menschen vorherzusagen.

In der heutigen pharmazeutischen Forschung werden viele neue Wirkstoff-Kandidaten im Tierversuch getestet, um u.a. zu ermitteln, ob diese Wirkstoffe genügend orale Bioverfügbarkeit in diesen Tieren besitzen.

Welcher Wirkstoff-Kandidat eignet sich jedoch am besten für die Weiterentwicklung zum Medikament?

Die im Tier gemessene orale Bioverfügbarkeit kann u.a. als Entscheidungskriterium benutzt werden, ob weitergehende klinische Untersuchungen durchgeführt werden.

Wir haben nun erstmals auf Basis einer sehr großen Anzahl von zugelassenen Medikamenten ermitteln und quantifizieren können, wie gut die orale Bioverfügbarkeit in Tieren und im Menschen übereinstimmt und korreliert.
Unsere Forschungsergebnisse belegen, dass die im Tier gemessene orale Bioverfügbarkeit bei einer Vielzahl von Wirkstoffen nicht mit dem im Menschen ermittelten Wert übereinstimmt. Bei vielen Medikamenten wurden sehr große Unterschiede in der oralen Bioverfügbarkeit zwischen Mensch und Tier gefunden. Die wichtigsten Ergebnisse hierzu haben wir auf unseren Webseiten veröffentlicht (http://www.pharmainformatic.com/html/prediction_of_f_.html)

Weiterhin haben wir mit Hilfe der Wissensdatenbank das Expertensystem IMPACT-F entwickelt, welches die orale Bioverfügbarkeit von zukünftigen Wirkstoffen und Medikamenten im Menschen bestimmt.

Hierbei haben wir festgestellt, das das Expertensystem die orale Bioverfügbarkeit im Menschen viel genauer und verlässlicher einschätzen kann als Bioverfügbarkeitsuntersuchungen in Tieren.

InVitroJobs: Bei welchen Fragestellungen kann die Wissensdatenbank PACT-F eingesetzt werden?

Dr. Boomgaarden: Mit Hilfe der Wissensdatenbank können die molekularen Ursachen, Gründe und Faktoren erforscht werden, warum und in welchem Maße Substanzen in Tieren oder im Menschen bioverfügbar sind.

Die Wissensdatenbank ist hoch annotiert. Dies bedeutet, eine Vielzahl von Parametern und Faktoren, welche die Bioverfügbarkeit beeinflussen können, wurden mit in die Wissensdatenbank integriert, hier einige Beispiele:

- Gibt es geschlechtsspezifische oder genetische Faktoren?

- Wie wirkt sich die gleichzeitige Gabe von weiteren Medikamenten aus?

- Welche Krankheiten haben einen Einfluss auf die Bioverfügbarkeit?

- Welchen Einfluss hat das Alter der Probanden?

- Beeinflusst Nahrungsaufnahme die orale Bioverfügbarkeit?

- Welcher Wirkstoff oder Metabolit wurde analysiert?

- Mit welcher Messmethode?

- Was sagt diese Methode aus und wurden dabei verlässliche Daten erzeugt?

Die Wissensdatenbank bildet die fundamentale Basis, um neue Thesen, Zusammenhänge und Regeln zur Bioverfügbarkeit von Wirkstoffen zu entwickeln und um die orale Bioverfügbarkeit zukünftiger Medikamente zu optimieren.


InVitroJobs: Welche Vorteile hat das Expertensystem IMPACT-F gegenüber Tierversuchen bei der Erforschung und Entwicklung neuer Medikamente?

Dr. Boomgaarden: Durch das Expertensystem IMPACT-F können jetzt Wirkstoff-Kandidaten in einer sehr frühen Phase der Medikamenten-Entwicklung bezüglich ihrer oralen Bioverfügbarkeit beurteilt werden. Dadurch können geeignete Entwicklungskandidaten frühzeitig selektiert und ungeeignete aussortiert werden. Dies wird schon lange von der pharmazeutischen Industrie gefordert, um die hohen Kosten der Medikamenten-Entwicklung zu reduzieren.

Im Gegensatz zu Tierversuchen sind die Ergebnisse direkt verfügbar und sind dabei noch kostengünstiger. Es entstehen auch keine weiteren experimentellen Kosten, z.B. durch die chemische Synthese von Wirkstoffen.

Entscheidend ist jedoch die Qualität: Das Expertensystem kann bedeutend genauer und verlässlicher als Tierversuche die orale Bioverfügbarkeit im Menschen vorhersagen. Die Genauigkeit der Prognose von IMPACT-F entsprach der Abweichung, welche üblicherweise zwischen individuellen Menschen in klinischen Studien gemessen werden.


InVitroJobs: Wie ist die Resonanz in der Industrie?

Dr. Boomgaarden: Die ist sehr erfreulich! Schon jetzt setzen mehrere Pharma-Unternehmen IMPACT-F zur Vorhersage der oralen Bioverfügbarkeit ihrer Forschungskandidaten ein. Und dies in unterschiedlichen Phasen der Medikamenten-Entwicklung: Zum einen in der präklinischen Phase, wo es um die Optimierung und Selektion geeigneter Forschungskandidaten geht, zum anderen auch bei der Vorbereitung und Unterstützung von klinischen Untersuchungen im Menschen.

Und dies zwei Wochen nach der Einführung des Expertensystems in den Markt! Ich denke, das zeigt auch das hohe Interesse von pharmazeutischen Unternehmen an diesem Expertensystem.

InVitroJobs: Wir danken recht herzlich für das Gespräch.


Literatur:

1 Aktories et al. (2009): Repetitorium Allgemeine und spezielle Parmakologie und Toxikologie. München.
2 Wissensdatenbank PACT-F. http://www.pharmainformatic.com/html/databases.html
3 Expertensystem IMPACT-F. http://www.pharmainformatic.com/html/impact-f.html
4 Forschungsergebnisse:  http://www.pharmainformatic.com/html/prediction_of_f_.html
und http://www.pharmainformatic.com/html/content_of_pact-f.html